Seit den »Parallelgeschichten« hat Péter Nádas keinen Roman mehr geschrieben. Das europäische Jahrhundert-Epos von 1.724 Seiten, Nádas Hauptwerk, wurde in Ungarn 2005 eher verhalten aufgenommen, in Deutschland bei seinem Erscheinen sieben Jahre später indessen hymnisch gefeiert.
Im westungarischen Hinterland schrieb Nádas in der Folgezeit eine literarische Autobiografie sowie Erzählungen und Essays. An ein Werk monumentalen Ausmaßes machte er sich nicht mehr. Doch haben die »Parallelgeschichten« eine nach wie vor wuchtige Aktualität. Am 14. Oktober wird der ungarische Autor, der immer wieder als Literaturnobelpreis-Kandidat gehandelt wird, 80 Jahre alt.
Péter Nádas kam 1942 in Budapest zur Welt, er stammt aus einer jüdischen Familie. Im Alter von acht Jahren ließ der spätere Schriftsteller Peter Nadas seine Mutter im Brustton der Überzeugung wissen, dass er die Juden hasse.
Die Mutter zwang ihn daraufhin, in den Spiegel zu blicken. »Schau gut hin«, sagte sie, »da hast du einen Juden, du kannst ihn ruhig hassen.« In Interviews betonte der Autor, dass dies eine der wenigen Geschichten in seinen Büchern sei, die sich in der Wirklichkeit genauso ereignete, wie er sie beschrieb.
In der Familie des Heranwachsenden war die jüdische Herkunft dennoch kein Thema. Die Eltern waren überzeugte und dann enttäuschte Kommunisten. Die Eltern waren im illegalen kommunistischen Widerstand gegen das autoritäre Horthy-Regime aktiv, das dem Faschismus zuneigte. Nach 1948 erhielt der Vater leitende Parteifunktionen. Nádas‹ Mutter starb 1953, drei Jahre später beging der Vater Suizid. Péter Nádas wuchs bei Verwandten auf.
Schon in seinem Frühwerk spiegelt sich das politische Nachkriegs-Ungarn; allerdings hat das Innen- und Beziehungsleben der Figuren für den jungen Nádas das größere Gewicht. Es sind oft jugendliche Helden, deren seelische Leiden und Konflikte er schildert - etwa in seiner Erzählung »Die Bibel« (1967), mit der er seinen Durchbruch schaffte. Auf die Veröffentlichung seines ersten Romans, »Ende eines Familienromans« (1977), musste er wegen der Zensur fünf Jahre warten.
Es geht darin um einen Jungen, der als Sohn eines Geheimdienstoffiziers nach dem Tod der Mutter bei den jüdischen Großeltern aufwächst. Der Terror der Stalin-Ära erschüttert sein Weltbild; er sucht nach Antworten und Sinn. Im Scheitern der Familie wird zugleich das Ende jüdisch-christlicher Traditionen sichtbar.
Nádas, der schon als Schüler Schriftsteller werden wollte, arbeitete zunächst als Fotograf und ab 1965 als Journalist bei einer Budapester Tageszeitung. Doch geriet er immer stärker in Konflikt mit Vorgesetzten; er warf ihnen Verlogenheit bei der Berichterstattung vor. 1968 kündigte er.
Der Fotografie blieb Nádas jedoch immer verbunden. Er kuratierte eine Ausstellung über ungarische Fotografie, die 2003 in Den Haag und im Jahr darauf in Berlin gezeigt wurde, und veröffentlichte Fotobücher, teils zusammen mit Erzählungen: »Etwas Licht« erschien 1999, »Der eigene Tod« 2002. In der Erzählung »Der eigene Tod« verarbeitete Nádas die Grenzerfahrung seines Herzstillstands als 51-Jähriger. Dieses Ereignis habe seine Einstellung zum Tod verändert, bekannte er.
Seit fast vier Jahrzehnten lebt Nádas - zusammen mit seiner Frau, der Journalistin Magda Salomón - überwiegend in der Abgeschiedenheit des westungarischen Dorfes Gombosszeg. In der Erzählung »Behutsame Ortsbestimmung« (2006) hat er diesen Ort mit dem Wildbirnenbaum im Garten poetisch dicht beschrieben, zugleich das Verhältnis von Mensch und Natur, Geschichte und Tod beleuchtet. Die »Zeit« feierte das 80-Seiten-Bändchen damals als »Riesenbuch«, in dem es dem Autor gelinge, die »ganze Welt« und »einen Zipfel der Ewigkeit« zu fassen.
Im quantitativen Kontrast dazu stehen Nádas‹ Romanarbeiten, die die Grenzen dieser Form ausloten. Schon das »Buch der Erinnerungen« (1986) galt als Meisterwerk und wies Nádas als Schriftsteller von Weltrang aus. Es hat drei Ich-Erzähler, deren Geschichten miteinander verschlungen sind und sich schließlich als Erinnerung eines Erzählers herausstellen. Die »Zeit« würdigte das Werk damals als »großen Roman über die Tragödie der Persönlichkeit«.
In den »Parallelgeschichten« schließlich brach Nadas mit der klassischen Erzählform des Romans. Ein Mordfall im Berliner Tiergarten 1989 löst die Suche nach einem düsteren Familiengeheimnis aus. In Zeitsprüngen - Ungarnaufstand 1956, Berliner Aufstand 1961, die Deportation ungarischer Juden durch die Nazis 1944/45, das Wendejahr 1989 - werden deutsche und ungarische Vergangenheit sowie einzelne Schicksale verknüpft. Angesichts der überwältigenden Fülle von historischen Daten, Figuren und Nebensträngen, eines »schwindelnd machenden Mahlstroms aus Privatem und Politischem« (»Welt«), lässt sich dabei allerdings keine lineare Geschichte mehr ausmachen.
Dass in diesem Buch überall nur Chaos sei, schrieb ein US-amerikanischer Kritiker damals. Und wirklich scheint Nádas die Unordnung zum formalen Prinzip erhoben zu haben. Die europäische Kultur, das sei nicht Michelangelo oder Bach, sondern der Krieg, die Unordnung, sagte Nádas in einem Interview vor zehn Jahren.
Nádas wurde unter anderem mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem ungarischen Kossuth-Preis (1992) und dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (1995) ausgezeichnet. (mit dpa)