Es gibt im Leben eine Beziehung, der man niemals entkommt: die zur Mutter. Mag sie noch so fern sein, mag sie verstorben sein, eine vage Erinnerung, eine schlechte, eine traurige, mag sie gar keine Erinnerung sein, weil man sie niemals kannte: Auch dann ist sie eine Beziehung, die bleibt, in der Sehnsucht eben. Mütter und Söhne, Mütter und Töchter, alles ist gesagt, geschrieben, gedichtet worden, und was nicht erzählt worden ist, liegt auf der Couch zur Analyse.
Mutter, Mutterer, Jiddische Mamme.
Die jüdische Mutter – aber vielleicht schreiben wir Juden uns das nur gerne auf die Fahnen – ist eine Steigerung des Begriffs Mutter: Mutter, Mutterer, Jiddische Mamme. Letztere zerrt an dieser Beziehung, zieht, ziept, dehnt, reißt, all das, während sie sich doch scheinbar nur nach unserem Befinden erkundigt: Weißt du, wie du mir das Herz gebrochen hast, als du dich gestern Abend nicht gemeldet hast und ich vor Sorgen starb?
Sie sterben immer wieder, unsere jüdischen Mütter, aber auch all das ist schon in Witzen, Filmen, Büchern erzählt worden. Diese Erzählungen brauchen die anderen, sie lachen darüber. Wir haben sie ja im tatsächlichen Leben, unsere jüdischen Mütter.
BULIMIE Lana Lux, Autorin des viel beachteten Debüts Kukolka, hat ihren zweiten Roman veröffentlicht, der eine (jüdische) Mutter-Tochter-Beziehung erzählt. Jägerin und Sammlerin heißt er, weil die Mutter eine Jägerin und die Tochter eine Sammlerin ist.
Die Mutter jagt – am liebsten Männer, von denen sie hauptsächlich eines will: dass sie sich in sie verlieben. Jagt ihre Tochter: mit ihren Erwartungen, dem eigenen Kummer, der Verzweiflung darüber, dass das Leben nicht so ist, wie sie es sich einst erträumte (die Tochter entspricht diesen Träumen natürlich auch nicht). Die Tochter, die Abiturientin Alisa, sammelt: sammelt Gegenstände, die die Mutter seit ihrer Kindheit gegen ihren Willen entsorgt, sammelt Vorwürfe, die ausgesprochenen, und die anderen, die vielleicht noch mehr schmerzen, die im Schweigen, in wertenden Blicken ertasteten, frisst sie in sich hinein. Bis sie zu fressen und wieder auszukotzen beginnt: Das Mädchen hat Bulimie.
Cola Das Mädchen ist krank: Beginnt den Tag damit, ihr Gewicht zu notieren, hungert und schleppt sich durch die Tage, stopft bei Fressanfällen Chips und Cola in sich hinein, um sich dann drei Finger in den Rachen zu stecken, alles wieder auszubrechen.
Drei Finger, selbst darin entdeckt das von Selbsthass und Gefühlen der Unzulänglichkeit gebeutelte Mädchen einen Fehler: Bei anderen Bulimie-Erkrankten, so hat es gelesen, reicht nur ein Finger. Die Mutter, die mit ihrem Mann und der zweijährigen Tochter einst als Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland floh, sieht die Krankheit erst nicht, will sie nicht sehen, will sie bis zum Schluss nicht als Krankheit erkennen.
Tanya, die, wie die Leser erst spät erfahren und Alisa niemals, unter schwersten familiären Bedingungen aufgewachsen ist, weiß, dass man kämpfen muss, wenn man etwas erreichen will, weiß, dass man schön sein muss, weiß um die Kraft eines ersten Eindrucks, weiß, dass ihre Tochter nichts davon weiß. Bulimie ist für sie eine erfundene Krankheit, eine Ausrede, die die faule Tochter sich sucht, um nicht kämpfen und jagen zu müssen. So zerren die beiden aneinander, schreien, lieben, helfen, schmeißen mit Vorwürfen um sich, können nicht mit und nicht ohne einander, sind Mutter und Tochter, vielleicht nicht mehr, aber auf gar keinen Fall weniger als das.
BITTERKEIT Lana Lux erzählt von zwei Frauen, aber viel mehr Leben, die exemplarisch stehen für alles, was eine Migration mit Menschen macht: Sie erzählt die großen Hoffnungen, die auch das Streben nicht mit Realität zu erfüllen vermag, die Demütigung, plötzlich ein Niemand zu sein, die Einsamkeit, die sich langsam, aber sicher in Bitterkeit verwandelt. Und sie erzählt von der Bürde der zweiten Zuwanderergeneration, derjenigen, die als kleine Kinder in ein neues Land kommen oder gar dort geboren werden.
Sie erzählt, wie es ist, verantwortlich zu sein für jedes Verständnisproblem der Eltern, zuständig zu sein für Übersetzungen, das Schreiben von Bewerbungen und Briefen, vor allem aber zuständig zu sein für das Glück derjenigen, die einem dieses Leben ermöglichten.
Wie es ist, ein ständiger Beweis sein zu müssen, dass sich die Entscheidung, Familie, Freundeskreis, Muttersprache, Ansehen hinter sich zu lassen, gelohnt hat. Vielleicht ist es die Beweislast, die für beide Frauen, vor allem aber für ihr Verhältnis – schlussendlich brechen die beiden für Jahre den Kontakt ab – zum Verhängnis wird: Beide scheitern daran, dass es Alisa nicht gelingt, zu sein, was ihre Mutter in sie an Wünschen, Träumen und Erwartungen hineinprojiziert.
Lux zeigt exemplarisch, was Migration mit Menschen macht.
Der Roman beginnt mit Alisas Krankheit. Plastisch, schonungslos, über viele Seiten hinweg, beschreibt Lana Lux, wie der Körper die Kontrolle über den Kopf, über jedes Gefühl übernimmt, wie Alisa frisst, auskotzt, sich selbst, ihre Mutter, ihre beste Freundin, alle um sie herum hasst, noch mehr frisst.
Therapie Erst als Alisa in die Klinik kommt und eine Therapie beginnt, öffnet die Autorin die Tür in die Vergangenheit, erzählt erst Alisas Kindheit und Jugend mit ihren Eltern, dann, nachdem der Vater verschwunden ist, mit der Mutter, dann die der Mutter in der Ukraine. Lässt beide ihre Geschichten aufschreiben, wie kleine, große Geschichten, in der einen gemeinsamen Geschichte versteckt.
Es ist dann, als wären all die Kapitel, die man, leicht angewidert, leicht wartend angesichts des Erzählten, gelesen hat, nur ein Vorraum gewesen zu diesem großen Saal, in dem alles interessant, aufsaugens-wert erscheint, jedes Detail eine Rolle spielt, jeder Dialog einen noch mehr hineindrängt in die in jedem Sinn beengten Verhältnisse, in denen sowohl Tochter als auch Mutter aufwuchsen.
Der Rahmen, der um diese Mehrgenerationengeschichte gespannt wird, wirkt wohl überlegt, er hält sie fest, manchmal zu sehr, weil die Geschichte den Rahmen eigentlich nicht braucht. Weil sie die vielleicht wichtigste Beziehung erzählt, die, die uns alle für immer begleitet. Mama ist immer da.
Lana Lux: »Jägerin und Sammlerin«. Aufbau, Berlin 2020, 304 S., 20 €