Wie klingt eine Stadt? Neben den unzähligen gegenständlichen Sounds von Industrieanlagen bis zu Elektroautos wohl am ehesten so, wie die summierten Stimmen ihrer Bewohner. Mit seiner neuen Komposition »The Notional Anthem« macht sich Ari Benjamin Meyers nun mit freiwilligen Sängern – ein jeder ist eingeladen – im Rahmen seiner Ausstellung Always Rehearsing daran, Mainz in zehn Proben zum Erklingen zu bringen.
Mit Always Rehearsing zeigt die Kunsthalle Mainz eine Ausstellung, wie man sie in Museen immer noch viel zu selten findet – was überrascht, sind doch die Beziehungen zwischen Musik und Bildender Kunst seit mindestens 100 Jahren ebenso evident wie mannigfaltig. Als Musiker, Komponist, Dirigent und inzwischen auch Bildender Künstler ist Meyers nicht nur in beiden Welten zu Hause, er versteht es auch, sie miteinander zu verbinden.
Visuelle und klangliche Kunst
Vor der visuellen kam allerdings die klangliche Kunst: Der Wahl-Berliner, 1972 im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren, lernte im Alter von vier Jahren Klavier spielen. Ein augenscheinlich ganz normaler Klavierflügel steht denn aktuell auch zentral in der geräumigen Halle 2 der Kunsthalle. Das 1893 erbaute Instrument zu spielen, muss laut Meyers für jeden Pianisten jedoch die Hölle sein, »ein kafkaesker Albtraum«. Denn egal, welche Taste man anschlägt, es erklingt – in verschiedenen Tonlagen – stets derselbe Ton: »As«.
Der Schlüssel zum Verständnis der Arbeit führt zu Erik Saties 1893 komponiertem Stück »Vexations«, zu Deutsch Demütigungen oder Quälerei. Die kleine Partitur soll seinem Erschaffer nach genau 840-mal wiederholt werden, was es zu einem der längsten Musikstücke aller Zeiten macht. Genau 840-mal hat Meyers die kurze Partitur nun per Hand transkribiert, mitsamt kleinen Variationen und unbeabsichtigten Fehlern. Die so entstandenen Notenblätter bestücken hier die beiden Wände in Spielrichtung des 1-Ton-Klaviers, das hier ausschließlich jenen Ton erklingen lässt, der in Saties Thema als einziger der gesamten Tonleiter nicht auftaucht.
Auslassungen und Variationen, Repetitionen, Klangfarben, Harmonie und Dissonanz, solche Essenzen musikalischen Ausdrucks finden sich überall in der Ausstellung wieder. Der Titel verrät, dass Meyers vielmehr am Prozess des Probens denn an der fertigen Aufführung interessiert ist. Auch als Museumsbesucher bleibt man im Idealfall nicht bloß Rezipient, sondern lässt sich in den Schaffensprozess einbeziehen.
Kann ein Mann mit einer Frau singen?
Die Arbeit »Duet« fordert so dazu auf, für einige Minuten mit einem Mitglied aus dem Team der Kunsthalle drei einfache Motive zum Leben zu erwecken. Seit 2014 wird die Arbeit an verschiedensten Orten der Welt »geprobt«. »In Kairo wurde die Arbeit plötzlich sehr politisch«, erzählt der Künstler, »weil auf einmal Fragen aufkamen wie: Kann ein Mann mit einer Frau singen?«.
Die Kunsthalle Mainz bietet einen umfangreichen Einblick in Ari Benjamin Meyers Kunst- und Musikverständnis: »Solo für Ayumi« (2017) interpretiert musikalisch wie bildnerisch die Verbundenheit zwischen Komponist und der gleichnamigen Geigerin. Arbeiten wie »Who’s Afraid of Sol La Ti?« oder die Rauminstallation »Heavy Metal«, mit Bleigussplatten aus dem berühmten Mainzer Musikverlag Schott, zielen auf den kaum greifbaren Charakter von Musik sowie den Vorgang des Komponierens selbst ab.
Wie Meyers überhaupt stets das Band aufspürt, das sich zwischen Inspiration, Kreation und Interpretation spannt. Es ist eine universelle Angelegenheit, die der klingenden wie der visuellen Künste, womöglich des Musik- und Kunstmachens schlechthin.
Daniel Urban
Bis zum 20. Oktober www.kunsthalle-mainz.de/ari-benjamin-meyers-always-rehearsing