Am Ende war alles so überraschend, dass selbst diejenigen, die für die Überraschung gesorgt hatten, etwas hilflos wirkten. Allerhand Kameras, eine aufgeregte Pressesprecherin und verwirrende Antworten auf der Pressekonferenz in der Berliner Philharmonie. Die vielen Nachfragen von Journalisten schienen Intendant Martin Hoffmann und seine Musiker zu irritieren, als sie am Montag bekannt gaben, dass Kirill Petrenko neuer Chefdirigent und Nachfolger von Simon Rattle wird.
Ein Journalist wollte wissen, wann Petrenko antritt. Aber die Orchester-Offiziellen wussten keine Antwort: vielleicht 2018 oder doch erst 2020? Derzeit steht er an der Bayerischen Staatsoper unter Vertrag. Und, nein, der Gewählte selbst wird keine Interviews geben, die hält er für Zeitverschwendung.
Spekulationen Aber wie soll ein solch introvertierter Künstler die exponierten Philharmoniker führen? Was wird aus der Digital Concert Hall mit einem Dirigenten, der so gut wie nie ins Plattenstudio geht? Und was aus dem Education-Programm, das einen Charismatiker benötigt? Die Kameras laufen, und die Philharmoniker stottern: Man wird all das in den Vertragsverhandlungen thematisieren. Aber warum, bitte schön, hat das Orchester sich nicht schon beim ersten Wahlgang für den russischen Dirigenten entschieden, der nun als Ideallösung vorgestellt wird? »Tja, so einfach sind die Entscheidungswege nun einmal nicht.« Ach so.
Ein bisschen Geheimniskrämerei gehörte schon immer zum Mythos der Berliner Philharmoniker. Mit Kirill Petrenko, den die Tageszeitung »Die Welt« einmal das »Phantom der Oper« nannte, wird das Orchester nun endgültig zu einem Zukunftsorakel. Es gibt mehr Spekulationen als Nachrichten. Haben die alten Spitzenkandidaten, Daniel Barenboim, Andris Nelsons und Christian Thielemann, den Philharmonikern im Vorfeld wirklich einen Korb gegeben? Ist das Orchester etwa gar nicht mehr erste Wahl unter den internationalen Maestri? Und ist der Neue in Wahrheit nur vierte Wahl der Musiker?
Petrenko hat die Berliner bisher nur drei Mal dirigiert. Beim zweiten Mal sagte er: »Es ist nicht so leicht, man hat so viel Ehrfurcht, es ist schwer, gleich eine Nähe aufzubauen. Aber ich glaube, inzwischen sind wir dabei, uns besser kennenzulernen.« Den Unbekannten zum Chef zu machen, ist mutig. Auch weil Petrenko bekannt für seine Sensibilität ist, dafür, dass große Aufgaben bei ihm für großes Nervenflattern sorgen, dass er sich lieber versteckt, als aus sich herauszugehen, dass er lieber flieht, als sich zu stellen.
Akribisch Klar ist aber auch, dass dieser Mann, der in der Öffentlichkeit zuweilen wie ein verunsicherter Geist wirkt, sich vor seinen Orchestern zum Magier verwandelt. Musiker schwärmen von seiner Energie, seiner Gewissenhaftigkeit, seinem komplexen Wissen, seiner mit großen Emotionen gepaarten Akribie. Petrenko gilt als Dirigent, der in den Proben unglaublich viel redet, auch anstrengend ist, seinen Musikern alles abverlangt. Er ist kein Kumpeltyp, kein Small-Talker, keiner, der Zeit auf Eitelkeiten verschwendet. Für Petrenko ist Musik vor allen Dingen harte Arbeit, keine Show, sondern tiefes Hinabsteigen in den Weinberg der Töne.
Ihm beim Dirigieren zuzuschauen, ist, wie vor einem Erdbeben die flüchtenden Tiere zu beobachten. Die dauernde Anspannung ist dann fast greifbar, Petrenko wirkt wie ein Vulkan kurz vor der Eruption, er schöpft seine Kraft aus der Konzentration. Nicht ohne Grund betritt der Dirigent die Bühne stets mit zwei Taktstöcken, weil er einen im Eifer des Gefechtes verlieren könnte. Er ist ein Dirigent, der nach der letzten Note gern lächelnd an seinem Pult verharrt, oft sekundenlang, um dem, was er gerade mit seinen Musikern zustandegebracht hat, nachzuhorchen. Petrenko ist sein eigenes, dauerndes Echo.
Geboren wurde Kirill Petrenko 1972 im russischen Omsk. Sein Vater, ein Geiger, seine Mutter, eine Musikwissenschaftlerin, zogen, als er 18 Jahre alt war – auch wegen des wachsenden Antisemitismus in Russland –, ins österreichische Vorarlberg. Für Petrenko ein Idyll: Studium in Feldkirch und in Wien, erste Dirigate in Vorarlberg, internationale Anerkennung als Chefdirigent in Meiningen, dann an der Komischen Oper in Berlin, Gastdirigate bei allen internationalen Orchestern und schließlich die Berufung an die Staatsoper in München.
werktreu Es ist eine Traumkarriere, die gepflastert ist von expressivem Tschingderassabum, von musikalischen Abgründen, vielen Zwischentönen und perfekten Abenden. Aber freilich auch von umstrittenen Deutungen, wie etwa dem sehr kleinteilig und umständlich werktreu dirigierten Ring des Nibelungen bei den Bayreuther Festspielen 2013.
»Meine Heimat«, sagte Petrenko einmal, als er noch mit Journalisten sprach, »auch, wenn das etwas pathetisch klingt, ist die Musik. Ich liebe Vorarlberg, weil dort meine Eltern sind, ich mag es, in Berlin zu wohnen, fühle mich aber auch in München wohl. Ich reise gern nach Israel, weil ich dort so viele Verwandte treffe. Aber meine wahre Heimat, das ist der Klang.« In seiner inneren Welt scheint Petrenko grenzenlos zu sein. Ein Grübler, ein Tüftler, ein Pedant. Fehler verzeiht er sich nicht. Erwartungen gibt es, um erfüllt zu werden.
Für die schillernden Berliner Philharmoniker ist der zartbesaitete Maestro eine Herausforderung. Unter Simon Rattle haben sie die Abkehr von der eigenen Vergangenheit eingeleitet. Sie haben dem sogenannten »deutschen Klang«, der von Wilhelm Furtwängler erfunden, von Herbert von Karajan gepflegt und von Claudio Abbado entschlackt wurde, einen postmodernen, vielfältigen und globalisierten Sound entgegengesetzt. Rattles Nachfolge war auch eine Richtungsentscheidung: zurück in die Neudeutung der Vergangenheit oder ein Schlussstrich und ein kompromissloser Aufbruch ins Neue? Mit Thielemann und Barenboim wäre das Orchester zu seinen emotionalen Wurzeln, zum Rauschhaften zurückgekehrt.
Visionen Mit Petrenko wird nun wohl das Gegenteil passieren: eine eklektizistische Zukunft und die Emanzipation vom alten Sound-Markenkern. Es wird spannend, zu sehen, ob dieser Weg in Willkür endet oder in wirklich neuen Visionen. Andere Dirigenten (Barenboim an der Staatskapelle in Berlin oder Nelsons in Boston) werden jedenfalls versuchen, den Berlinern mit dem Gegenteil Konkurrenz zu machen: mit ihrer Qualität des musikalischen Rausches.
»Man kann gar nicht in Worte fassen, was jetzt in mir gefühlsmäßig vorgeht«, hat Petrenko gesagt, als die Philharmoniker ihm den Chefposten anboten. »Von Euphorie und großer Freude bis zu Ehrfurcht und Zweifel ist da alles drin.« Aber auch für die Philharmoniker ist Petrenko am Ende eine Wundertüte. Was genau sie mit ihm gewählt haben, scheint ihnen selbst noch nicht ganz klar zu sein.
Das werden sie in den nächsten Monaten bei den Vertragsverhandlungen feststellen – und irgendwann, wenn sich dann endlich wieder alles um die Musik dreht, werden es auch die Besucher der Philharmonie hören.
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