Die Ursache für Autismus ist unbekannt, gleichwohl kursieren eine Menge kruder Vermutungen und Verschwörungstheorien über die Auslöser der Erkrankung. Impfgegner sind beispielsweise sicher, dass in Vakzinen Stoffe enthalten sind, die Autismus auslösen können. Selbst ernannte Wunderheiler preisen dagegen hochgefährliche Chemikalien an, die angeblich autistische Kinder heilen sollen.
Eine neue Studie der Tel Aviv University zeigt jedoch einen Zusammenhang zwischen einem Schlüsselgen, Veränderungen im Gehirn, wie Alzheimer oder Autismus, und dem Geschlecht.
Von Alzheimer und Autismus sind Männer und Frauen unterschiedlich stark betroffen. Während an Alzheimer vorwiegend Frauen leiden, kommen statistisch auf jedes autistische Mädchen drei autistische Jungen. Die Tel Aviver Studie, die in der Fachzeitschrift Translational Psychiatry veröffentlicht wurde, befasst sich daher mit der Frage, was der Grund für diese ungleiche Verteilung ist.
Herausgefunden haben die Forscher, dass das für die Gehirnentwicklung essenzielle Gen ADNP – die Abkürzung steht für activity-dependent neuroprotective protein – je nach Geschlecht unterschiedliche Auswirkungen auf das Gehirn hat. Dies ist deshalb besonders interessant, weil es sich bei ADNP um ein Gen handelt, das so grundlegend und wichtig ist, dass der Mensch es sich nicht nur mit allen Säugetieren teilt, sondern dazu auch noch mit allen Chordatieren, insgesamt 56.000 Arten – von in der Tiefsee lebenden Manteltieren, schädellosen Lanzettfischchen über Knochenfische bis hin zum modernen Menschen.
Biochemie Leiterin der israelischen Forschergruppe ist die Professorin für klinische Biochemie Illana Gozes, die gleichzeitig auch Direktorin des Fachbereichs für menschliche Molekulargenetik und Biochemie der Tel Aviv University ist. Illana Gozes selbst hat das ADNP-Gen vor 15 Jahren entdeckt.
»ADNP mag in der Welt des Autismus etwas Neues sein, aber ich habe mich schon sehr lange damit beschäftigt«, sagt sie. »Das ADNP-Gen ist unabdingbar für die Gehirnentwicklung. Es ist das Gen, das das Schließen des Neuralrohrs bei der Entstehung des Gehirns von Säugetieren ermöglicht«, so Gozes weiter. Das Neuralrohr ist die Anlage des zentralen Nervensystems beim Embryo. »Ohne dieses Gen gibt es letztlich kein Gehirn«, erklärt Gozes. Später findet man das Protein dann vor allem im Hippocampus, in einem Bereich, der für das Erinnerungsvermögen und die Lernfähigkeit des Menschen zuständig ist.
Mäuse Gozes und ihr Team fanden bei männlichen Mäusen deutlich mehr ADNP-Proteine in den Gehirnen als bei weiblichen – ebenso in menschlichen Gehirnen, die man einer Autopsie unterzog. Das Gen ist, so ein weiteres Ergebnis der israelischen Forscher, zusätzlich noch für die Kontrolle zweier weiterer Gene zuständig: Eines davon gilt als Hauptrisikofaktor für Alzheimer, ein weiteres weist eine direkte Verbindung zu bestimmten Autismustypen auf.
Um den Einfluss des ADNP-Gens besser zu verstehen, wurden Mäuse gentechnisch dahingehend verändert, dass sie nur sehr geringe Mengen ADNP-Proteine produzieren. Anschließend wurden den Tieren dann sowohl kognitive als auch soziale Aufgaben gestellt. Die Versuche zeigten, dass sich die Folgen der verminderten ADNP-Produktion bei männlichen Mäusen gravierend von denen bei weiblichen unterschieden: Die männlichen Mäuse hatten sehr viel mehr Schwierigkeiten, sich zu erinnern, zu lernen oder auch nur soziale Aufgaben zu bewältigen als die weiblichen Mäuse. Insbesondere die Verminderung der sozialen Fähigkeiten und sozialen Erinnerungen führten dazu, dass die Forscher einen Zusammenhang mit Autismus herstellten.
Dennoch waren auch die gentechnisch veränderten weiblichen Mäuse gegenüber gesunden Tieren benachteiligt, wenn auch auf andere Weise. Im Ergebnis zeigten die männlichen Mäuse mit einem Mangel an ADNP-Proteinen deutlichere Neigungen zu einem Verhalten, das mit Autismus in Zusammenhang gebracht wird, als die weiblichen Mäuse – Letztere erwiesen sich dagegen als anfälliger für Alzheimer.
Sie sei über die Entdeckungen nicht überrascht gewesen, sagt Studienleiterin Gozes. Dass es Verbindungen des Gens zu neurologischen Phänomenen wie Autismus und Alzheimer gebe, sei »logisch gewesen. Von einem solchen Zusammenhang konnte man ausgehen«, so Gozes. »Aber wir haben nicht erwartet, solche großen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Mäusen zu finden«, fährt sie fort und betont: »Natürlich müssen wir die Forschung in dieser Richtung weiter vorantreiben, und das werden wir auch tun.«
Therapien Aber es gibt noch einen weiteren Punkt, den Gozes besonders wichtig findet. »Unsere Studie zeigt klar einen neurologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen und damit den Bedarf, beide Geschlechter im Hinblick auf die Auswirkungen von Autismus einzeln zu untersuchen – insbesondere in klinischen Studien und Tests von neuen Medikamenten und deren Wirksamkeit«, erklärt sie. »Und wir müssen nach unseren Ergebnissen die Mechanismen finden, die diese Unterschiede auslösen. Wir glauben, dass wir einen wichtigen Schlüssel gefunden haben, der in der Zukunft die Grundlage für die Entwicklung effektiverer Heilmethoden sein kann.«
Illana Gozes und ihr Team hatten schon vor einem Jahr eine Studie veröffentlicht, derzufolge ein Abschnitt des Gens ADNP mit dem Namen NAP verhindert, dass Gehirnzellen durch physische Beschädigung zerstört werden. Die Wissenschaftler stellten damals fest, dass ein Mangel an NAP zu degenerativen Gehirnerkrankungen wie Alzheimer führt, man aber mit NAP-artigen Proteinen die beschädigten Zellen wieder reparieren kann. Damit hatte man eine Tür zu einer möglichen Heilung von Alzheimer schon einen Spalt weit aufgestoßen.
Im nächsten Schritt werde man klinische Studien am Menschen durchführen, berichtet Gozes. Man hoffe, eines Tages Alzheimer und Autismus nicht nur aufhalten, sondern vielleicht ganz heilen zu können. Für Verschwörungstheoretiker und medizinische Scharlatane wäre das allerdings ein heftiger Schlag – während vor allem autistische Kinder endlich sicher vor gefährlichen oder unsinnigen Behandlungen sein könnten.
Autismus ist eine angeborene, bisher unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns, die sich schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht. Manche Forscher beschreiben Autismus als angeborenen abweichenden Informationsverarbeitungsmodus, der sich durch Schwächen in sozialer Interaktion und Kommunikation und durch stereotype Verhaltensweisen sowie Stärken bei Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Intelligenz zeigt. Es gibt verschiedene Ausprägungen und Schweregrade von Autismus.