Gefühle werden längst nicht mehr nur Romantikern überlassen. Die menschlichen Emotionen sind zum Forschungsfeld der modernen Hirnbiologie geworden. Im Universitäts-Klinikum Mainz etwa werden regelmäßig Probanden in den Kernspintomografen geschoben. Hunger, Angst oder Ekel werden im Gehirnscan sichtbar, denn diese Basisgefühle benötigen Energie – Glucose wird verbrannt, Sauerstoff verbraucht. Im Prinzip lassen sich so auch religiöse Gefühle sichtbar machen. »Wenn man zum Beispiel meditiert, werden der präfrontale Cortex und benachbarte Areale aktiviert«, erklärt der Mainzer Neuroradiologe Goran Vucurevic.
Oszillation Aber so einfach ist es dann doch nicht. Signifikante Messgrößen werden erst bei Menschen sichtbar, die sich und ihr Gehirn über Jahrzehnte in der Kunst der religiösen Konzentration eingeübt haben. Zum Beispiel tibetanische Mönche. Sie müssen mindestens 10.000 Stunden Meditationserfahrung hinter sich haben, damit im EEG eine anhaltend hohe Gammaband-Oszillation, also ein bestimmter Teil der elektrischen Gehirnwellen, sichtbar wird. In der Meditation strahlt das menschliche Denk- und Gefühlsorgan deutlich veränderte elektrische Impulse aus. Der Mensch hat etwa 100 Milliarden Gehirnzellen, die 40 Mal pro Sekunde einen elektrischen Impuls abgeben. Die Theorie ist, dass durch die religiöse Übung bestimmte Areale etwa im präfrontalen Cortex allmählich synchron feuern und in dieser neuronalen Gemeinsamkeit erst ein höheres religiöses Bewusstsein erzeugen.
Aber selbst erfahrenste Mönche können diesen Bewusstseinszustand nicht einfach wie einen Lichtschalter anknipsen. Langzeitmeditierende brauchen mehrere Dutzend Sekunden, um die hohe Gammaband-Amplitude in ihrem Gehirn schrittweise aufzubauen. Für das Gehirn, das in Millisekunden-Dimensionen reagiert, eine fast unendlich lange Zeit. Damit religiöse Gefühle neuro-medizinisch überhaupt sichtbar werden, ist viel Übung und Erfahrung nötig. Mal eben beten oder gar seine Religion wechseln hätte wohl keine hirnbiologischen Auswirkungen, meint Vucurevic. Das funktioniere nur durch langes Training, am besten von Kindesbeinen an.
glauben ohne glauben Aber längst nicht alle Gläubigen haben ihre Religion mit der Muttermilch eingesogen. »Ich bin 1950 geboren. Ich wusste gar nicht, was Judentum bedeutet. Ich freue mich, wenn ich jüdische Feste feiern kann und in der Synagoge Hebräisch höre«, sagt die Kulturleiterin der jüdischen Gemeinde Mainz, Nina Spolyanskaya. Heute bemüht sie sich, schon den Kindern Religion erlebbar zu machen. An Purim gibt es zum Beispiel kleine Geschenke und Süßigkeiten. Gefühle haben eben etwas mit Zucker zu tun! Die jüdische Gemeinde zu Mainz wird im Spätsommer ihre neue Synagoge eröffnen – ein moderner Bau, architektonisch ähnlich dem Jüdischen Museum Berlin von Daniel Libeskind, nur kleiner. Stolz auf den Neubau sind alle in der Gemeinde. Aber ist das schon ein religiöses Gefühl?
Man könne auch jüdisch sein, ohne besonders gläubig zu sein, es gebe sogar regelrechte Atheisten in der Gemeinde, sagt die Gemeindevorsitzende Stella Schindler-Siegreich. Trotzdem existiere so etwas wie ein gesamt-jüdisches Gefühl. »Ob ich in Warschau war oder in Wien. Am Schabbatabend gehe ich zum Gottesdienst und sage, dass ich Jüdin bin. Dann werde ich oft zum Kiddusch eingeladen, und man ist sofort ein Teil dieser Gemeinschaft«, sagt Schindler-Siegreich. Ob dieses Gemeinschaftsgefühl nun aus rein religiösen Gründen oder aus der Situation des Minderheitenstatus heraus zu erklären ist, will die Gemeindevorsitzende nicht beurteilen. Vielleicht sei es auch eine Mischung aus beidem, meint sie. Bei ihr kommt das Gefühl in der Religion vor allem dann auf, wenn es um die Verbindung zu den Vorfahren, den Eltern und Großeltern geht. »Wenn es möglich war, war ich als Kind an Jom Kippur immer in der Synagoge. Nachdem die Eltern gestorben sind, ist mein Gefühl um so stärker, besonders weil an Jom Kippur das Totengedenken ist. Durch diesen Gottesdienst fühlt man sich im Judentum stark verwurzelt, auch wenn man nicht das ganze Jahr über super-religiös ist«, sagt sie. Natürlich fühle sie sich in ihren Gefühlen durch latenten oder auch offen zutage tretenden Antisemitismus verletzt.
Blinddarm des Denkens Gerade dieser Antisemitismus ist für den Mainzer Philosophen und Neuroethiker Thomas Metzinger ein Beleg dafür, dass die Menschen sich von einem zu gefühlsgeleiteten Handeln verabschieden sollten. Denn Gefühle, besonders religiöse, hätten eben nichts mit der Realität zu tun. In Europa habe die Mehrheit lange Zeit das Gefühl gehabt, dass Juden minderwertige Menschen seien, so Metzinger. Das Gefühl wurde mit der Realität verwechselt. Seit der Empörung von Muslimen über die dänischen Mohammed-Karikaturen im Jahr 2006 wird von Religions- und Kirchenvertretern immer wieder die Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle gefordert. Aber wie sollen Medienvertreter auf solche Gefühle Rücksicht nehmen, wenn diese höchst individuell und nirgendwo klar definiert sind? Schließlich können Außenstehende nicht jeden Menschen, der sich auf seine religiösen Gefühle beruft, in einen Gehirnscanner legen und sehen, ob sein präfrontaler Cortex besonders aktiv ist.
Die Entstehung religiöser Gefühle ist für Metzinger evolutionär erklärbar, aber heute seien sie überflüssig und in ihren politischen Auswirkungen gefährlicher Ballast. Unsere Vorfahren, die den Glauben an ein Jenseits oder an eine höhere, transzendente Macht entwickelten, konnten sich schlicht besser organisieren und fortpflanzen, glaubt Metzinger. Gott und Glaube sind für ihn so etwas wie hirnbiologisch entstandene Existenzkrücken. »Wir haben einen existenziellen Riss in uns, der uns kränkt. Wir sind das erste Tier, das explizites Wissen um die eigene Sterblichkeit hat. Möglicherweise war das aus evolutionärer Perspektive ein großer Unfall, dass wir diesen großen frontalen Cortex bekommen haben und dieses explizite Denken«, erklärt der Neuroethiker. Die moderne Philosophie spricht hier von Kontingenzbewältigung: Das Wissen um den eigenen Tod sei nur mit einem Gottesmodell und gesellschaftlich organisierter Religion in Gemeinden, Kirchen, Gebets- und Meditationsgruppen zu ertragen. Das sei aber alles andere als ein Beweis, dass es einen Gott überhaupt gibt.
Homo sapiens Der Mensch müsse sich aber weiterentwickeln, die Zukunft gehöre nicht den Gefühlen, sondern der Vernunft, meint Metzinger. »Zum Beispiel bei der Klimakatastrophe oder der außer Kontrolle geratenen Finanzindustrie sehen wir alle sehr klar, dass wir dringend handeln müssten. Und wir müssen gleichzeitig erleben, dass wir nicht handeln, weil wir einfach diesen dauerhaften emotionalen Zustand, der das begleiten müsste, nicht herstellen können«, warnt Metzinger. Will der Homo sapiens aber überleben, so müsse sich sein Gehirn weiterentwickeln. Denn angesichts der globalen Probleme brauche es ein vor allem vernunftgeleitetes Handeln. Die Menschheit müsse aufpassen, dass sie, religiös oder unreligiös, nicht Opfer ihrer Gefühle wird.