Porträt

Löwin im Bücherdschungel

»Natürlich lese ich Bücher auch elektronisch!«, sagt Racheli Edelman und demonstriert mit Zeigefinger und Daumen auf dem iPad, wie man die Seitengröße ideal anpasst. Man müsse eben mit der Zeit gehen, befindet die 73-jährige Buchverlegerin ganz pragmatisch.

Die Israelin mit der spannenden Familiengeschichte ist eine Koryphäe in ihrem Metier. Begriffe wie DLR-Schutz bei PDF-Ausgaben und E-Books gehen ihr genauso leicht von den Lippen, wie die Anfänge des Schocken-Imperiums vor einem knappen Jahrhundert in Deutschland, als ihr Großvater einen Verlag und der Großonkel die berühmte Warenhauskette Schocken gründete.

Edelman hält mit ihren kristallklaren grünen Augen dem Blick des Gegenübers mit einer Mischung aus Neugierde, Aufmerksamkeit und Verschmitzheit stand. Ihre Worte sind deutlich und fast vehement, selbst wenn es um Anekdoten und Nettigkeiten geht. Es besteht kein Zweifel: Hier sitzt die Grande Dame der Verlagswelt, die sich seit über 40 Jahren wie eine Löwin im hebräischen Bücherdschungel behauptet.

Dabei ist das Büro des Schocken-Verlags weder modern noch sonderlich beeindruckend. Understatement könnte man es nennen, wenn man in dem Tel Aviver Wohnhaus steht und nicht sicher ist, ob hinter der schlichten braunen Wohnungstür eine Familie lebt oder das simple Messingschild wirklich den Eingang zum traditionellen Schocken-Imperium anzeigt, das sich über drei Stockwerke erstreckt.

Brüder Der Name Schocken steht Pate für zwei Zweige: Die Brüder Simon und Salman Schocken gründen in den 20er-Jahren die Schocken-Warenhäuser, die zu Deutschlands viertgrößter Warenhauskette mit fast 20 Filialen werden. Nach dem Tod von Simon übernimmt Salman 1929 die Geschäfte und eröffnet 1931 zusätzlich den jüdischen Schocken Verlag. 1934 wandert er nach Palästina aus und gründet in Tel Aviv einen neuen Schocken Verlag. Chef wird der frühere Wareneinkäufer Yosef Hermann. »Yosef protestierte zwar, dass er keine Ahnung von Büchern habe, aber mein Großvater zwang ihn förmlich«, erinnert sich Edelman.

Mit diesem Schritt rettet Salman nicht nur Yosefs Leben. Er macht auch die deutsche Diaspora glücklich. Mit Yosef werden die Bestände des Schocken Verlags in Hunderten von Bücherkisten von Hamburg aus verschifft, gekennzeichnet als »Privatbestand von Salman Schocken, der seinen Wohnsitz verlagert«. So bekommt auch Schockens Schützling Shmuel Yosef Agnon eine neue verlegerische Heimat. Die Bücher des späteren israelischen Literaturnobelpreisträgers nehmen in Rachelis Büro knapp ein Achtel des Regalplatzes ein.

Das erste Buch, das Salman vom Deutschen ins Hebräische übersetzen lässt, ist Goethes Faust. Salman hatte die Vision, das Beste aus der Weltliteratur ins Hebräische zu übertragen. Diese Liebe zur Literatur und zum breit angelegten Wissen ist bemerkenswert für einen jungen Mann, der nicht einmal Abitur hatte. »Mein Großvater hat sich sein ganzes Wissen selbst angeeignet«, erzählt Edelman stolz. Sie erinnert sich gut an ihn: »Er war ein beeindruckender Mann.«

Sie sagt aber auch »Großvater« und nicht »Opa« – Salman war keiner, der mit seinen Enkelkindern herumgetobt hätte. Und Edelman benutzt das deutsche Wort »distanziert« in dem sonst auf Englisch geführten Gespräch. »Ich erinnere mich außerdem an seine permanente schlechte Laune.« Die Gründe waren wohl vielfältig.

Erst nach 1949 erhält Salman einen finanziellen Ausgleich für die Geschäfte im Westen. Keines seiner fünf Kinder will zurück nach Deutschland, um die Kaufhäuser zu übernehmen und er selbst ist bereits zum Wanderer zwischen den Welten in Israel und Amerika geworden. Er verbringt viel Zeit in New York, wo er einen weiteren Verlag gründet.

Das Ehepaar Salman und Lili hat die Leidenschaft für Schrift und Sprache der nächsten Generationen vererbt: Sohn Gustav gründet die Tageszeitung Haaretz, die heute von dessen Sohn Amos geleitet wird. Gustavs Tochter Racheli Edelman leitet den Schocken-Verlag. »Und meine Tochter Yael möchte den Verlag weiterführen«, sagt die 73-Jährige. Durch die neue Buchpreisbindung in Israel habe sie jetzt auch wieder Hoffnung geschöpft, dass es noch etwas zu übernehmen geben wird.

Die Verlegerin hat miterlebt, wie sich die Zeiten geändert haben. Nach ihrem Militärdienst und einigen Jahren Berufserfahrung im Finanzministerium und im israelischen Rechnungshof war Racheli Edelman 1969 in den Verlag eingestiegen. Nach dem Tod von Yosef Hermann übernahm sie ihn dann 1972. Rückblickend waren das goldene Zeiten. Übersetzungen von akademischen Publikationen wurden an den israelischen Universitäten benötigt, Literatur hoch geschätzt, und die Menschen lasen mit Begeisterung modernes Hebräisch.

Außerdem gab es schlicht und einfach Bedarf. Als Edelman mit ihrer ersten Tochter schwanger war und es keine gute Ratgeberliteratur gab, ließ sie welche übersetzen und landete einen Hit. Sie ließ alte Übersetzungen aktualisieren und bewies ein gutes Händchen für internationale Autoren.

Preiskampf Doch es tobte auch ein erbitterter Preiskampf um Rabatte und Auslageflächen mit den beiden größten Buchhandlungen in Israel, der viele Verlage in die Knie zwang. Von 105 bleiben im Laufe der Jahre noch 43. »Ich habe von Anfang an um jedes Prozent Rabatt eiskalt gefeilscht, weil ich weiß, dass ein Rabatt immer zwangsläufig zum nächsten führt«, erklärt Edelman ihre Taktik. Das habe sie zwar nicht unbedingt beliebt gemacht, aber stark.

Ein anderes Problem kam auf, als die Universitäten die akademischen Veröffentlichungen kapitelweise kostenlos im PDF-Format zur Verfügung stellten. Die Verlegerin kämpft – und gewinnt. Die Universitäten müssen nachträglich eine Gebühr entrichten und ab 2017 regelmäßig Abgaben zahlen. Als Vorsitzende des israelischen Buchverlegerverbands hat Edelman sich für ein Buchpreisbindungsgesetz eingesetzt und erneut gewonnen. Außerdem kämpfte sie nach der Wiedervereinigung Deutschlands um eine Entschädigung für die ehemaligen Warenhäuser im Osten – 25 Jahre lang. 2014 wurden den Erben 50 Millionen Euro zugesprochen.

Es sind viele Fronten für Racheli Edelman, die von sich selbst sagt, dass sie an sich überhaupt nicht gerne streitet. »Aber wer nicht kämpft, geht unter.« Auch im Verlagsbereich. Immer weniger akademische Bücher werden ins Hebräische übersetzt, Englisch ist auf dem Vormarsch. Deswegen setzt sie sich für die hebräische Kultur ein, kauft Autoren aus aller Welt – für einen kleinen Markt.

In Israel gilt ein Buch als Besteller, wenn 10.000 Exemplare verkauft werden. Schockens Besteller haben Auflage von bis zu 120.000 erreicht – unter anderem die Kinderbücher Felix und Lillifee sowie die Romane von Hermann Hesse.

Der Schocken-Verlag veröffentlicht pro Jahr rund 50 Bücher, darunter auch Samuel Joseph Agnons Geschichten als Comic-Erzählung und Ausmalbücher für Erwachsene. Demnächst geht ein neues E-Book-Portal online: »Obwohl der Markt derzeit nur zwei Prozent ist.« Edelman hat sich lange beraten, was das Beste ist, sie kennt die Unterschiede zwischen 300, 600 und 2400 DPI Auflösung, weiß, was auf elektronischen Lesegeräten dargestellt werden kann. »Ich bin auf dem aktuellen Stand der Dinge«, sagt sie mit einem entwaffnenden Lächeln. Wer denkt, dass sie eine Seniorin ohne Kontakt zum 21. Jahrhundert ist oder hinter einem bücherbeladenen Schreibtisch hockt, wird überrascht.

Buchliebhaber »Die meisten Verleger sind keine Geschäftsleute, sondern lieben einfach Bücher. Ich liebe Bücher und bin Geschäftsfrau«, sagt die Tel Aviverin. Sie sei eben eine mit gutem Bauchgefühl für Literatur: Mehr als 1500 veröffentlichte Bücher, 34 Autoren wurden mit dem höchsten Preis des Landes ausgezeichnet. Trotzdem musste Edelman in den vergangenen Jahren die Zahl ihrer Mitarbeiter fast halbieren und hat vieles ausgelagert.

Und Deutschland? Zum Land ihres Großvaters hatte sie lange ein schwieriges Verhältnis. Deutsch hat sie nur gelernt, weil sie gerne Bücher im Original lesen wollte. »Mit meinem späteren Mann habe ich einen alten Opel Kapitän gekauft, und wir sind quer durch Deutschland bis nach Dänemark hochgefahren«, erzählt sie. Außer einem Abstecher nach Hamburg sei sie an allen anderen Städten vorbeigebraust. Das war 1965.

Auch als sie neun Jahre später das erste Mal zur Frankfurter Buchmesse fuhr, wollte sie nichts von der Stadt sehen. »Aber nach drei Tagen Messe und Hotelzimmer habe ich aufgegeben und mir ein Taxi zur Zeil genommen«, erzählt sie. Vor einem Buchgeschäft habe sie endlich wieder tief Luft geholt.

Zu Hause hat sie noch einen Brief ihres Vaters Gustav, in dem er schrieb, dass sie sich einmal in Frankfurt zu Hause fühlen werde. Er sollte recht behalten. »Wenn ich jetzt nach Deutschland fahre, fühle ich mich heimisch«, sagt sie, und ihre Augen blitzen. Mehr als 40-mal war sie auf der Frankfurter Buchmesse, ist 1990 mit ihrem Mann alle ehemaligen Schocken-Warenhäuser abgefahren. So hat sie Deutschland kennengelernt. Urlaub hat sie hier aber noch nie gemacht – trotz der Liebe zur deutschen Sprache und Kultur.

Gerade war Racheli Edelman wieder in Deutschland. Simon und Salman Schockens Erbe hat an einem alten Standort neuen Glanz erhalten: Nach einer grundlegenden Renovierung und Restaurierung wurde im ehemaligen Chemnitzer Schocken-Kaufhaus das neue Staatliche Museum für Archäologie »smac« eingeweiht. Neben Archäologie und der Geschichte Sachsens ist auch eine Dauerausstellung über die Historie des Gebäudes, des Kaufhauses und der Familie Schocken eröffnet worden. Da durfte Edelman nicht fehlen.

Imanuels Interpreten (1)

Flora Purim: Das Unikum

Die in Rio de Janeiro geborene Sängerin liefert eine einzigartige Melange der Klänge

von Imanuel Marcus  15.11.2024

Rezension

Die Zukunft umarmen

Anetta Kahanes Kolumnen plädieren mit radikaler Unbedingtheit für eine offene Gesellschaft

von Sandra Kreisler  15.11.2024

Amsterdam

Museum: Pissaro-Bild und tragische Geschichte seiner Eigentümer

Eine jüdische Familie muss ein Gemälde verkaufen, um zu überleben. Nun wird die Geschichte erzählt

 15.11.2024

Italien

Kino zeigt Film über Holocaust-Überlebende nicht

Aus Angst vor Protesten nimmt ein Filmtheater in Mailand die Doku »Liliana« aus dem Programm

von Robert Messer  14.11.2024

Literatur

»Schwarze Listen sind barbarisch«

Der Schriftsteller Etgar Keret über Boykottaufrufe von Autoren gegen israelische Verlage, den Gaza-Krieg und einseitige Empathie

von Ayala Goldmann  14.11.2024 Aktualisiert

Interview

»Wir sind keine zweite Deutsch-Israelische Gesellschaft«

Susanne Stephan über den neuen Verband Jüdischer Journalistinnen und Journalisten

von Ayala Goldmann  14.11.2024

Film

Verstörend

»No Other Land« blickt bewusst einseitig auf einen Konflikt zwischen Israels Armee und Palästinensern

von Jens Balkenborg  14.11.2024

USA

Leinwand-Kämpfer

»Fauda«-Star Lior Raz schwitzt und blutet nun auch in »Gladiator II«. Damit gehört er zur jüdischen A-List der Traumfabrik – und wird Teil einer alten Tradition

von Sarah Thalia Pines  14.11.2024

Meinung

Patrick Bahners und die »Vorgeschichte« zu den judenfeindlichen Hetzjagden in Amsterdam

Daniel Schwammenthal über das Pogrom von Amsterdam und seine Bagatellisierung durch deutsche Journalisten

von Daniel Schwammenthal  13.11.2024