Vielleicht fragen Sie sich, liebe Leser dieser Zeitung, aus welchem Grund Sie den hochgerechnet sechsundneunzigsten Bericht über die runtergerechnet viertausendste Lohengrin-Premiere ausgerechnet in Ihrem jüdischen Wochenjournal ertragen sollen. (Und dann auch noch Bayreuth ...)
Schließlich haben alle bedeutenden oder sich wahrhaft wichtig wähnenden Kritiker (die erste und letzte Wagner-Alliteration, versprochen) ihr Votum abgegeben. Pi mal Daumen lautet es: Bühnenbild banal bis begeisternd, Inszenierung statisch bis nicht vorhanden, Sänger mit Ausnahmen fein bis fulminant, Dirigat verhalten bis famos.
knallbonbon Auch die Fotos des Premierenpublikums können Ihnen nicht entgangen sein: Unsere Kanzlerin glänzt in hoffnungsvoll grüner Shantungseide, die Verteidigungsministerin setzt auf Wow-Effekt mit ihrem schwarzroten Tafttraum von 2006 und gewagt wie gewonnenem Rückenausschnitt, die Gattin eines aus der Nachbarschaft stammenden Ex-TV-Groß-Entertainers flaniert als Silvesterknallbonbon in güldenem Overall auf balkonhohen Stilettos durch die Szene, viele auf Erfolg gestraffte Gesichter und noch mehr bayerische Provinzfürsten mit tüllgewandeten und frisch erblondeten Gattinnen am Arm schaulaufen zum ewig harten Holzgestühl des Festspielhauses.
Klingt alles bekannt und leicht abgestanden? Bleiben Sie dennoch dran. In Bayreuth, es geschehen Zeichen und Wunder, wendet sich die Zeit und wird zu einem Raum, in dem jüdische Geschichte, jüdische Diskursfähigkeit und jüdische Kunst zwar spät, aber doch sichtbar auf dem Weg zu jener Bedeutung sind, die ihnen gebührt.
Eine gewagte These? Urteilen Sie selbst mit jenem berühmten jüdischen Witz im Hinterkopf: Der Goi fragt den Rabbi: »Warum stellt Ihr Juden immer Gegenfragen?« Und der Rabbi antwortet: »Warum nicht?«
israel Katharina Wagner war 2016 ihr Regisseur abhanden gekommen, Alvis Hermanis hatte sich zur Flüchtlingsfrage tölpelig geäußert. Wagner und ihr Musikdirektor Christian Thielemann baten einen jungen Amerikaner mit israelischen Wurzeln, Yuval Sharon, in ein Konzept hineinzuspringen, das Neo Rauch und Rosa Loy als Bühnen- und Kostümbildner beherrschten. Die beiden hatten ein hinreißendes und mystisches Kulissen-Farbwunder in einer Mischung aus Vermeer-Tönen, Rembrandt-Dunkel und Nolde-Wolken entworfen.
Was Sharon in dieses optische Konzept hineinzaubert, ist eine geistige Auseinandersetzung mit der jüdischen Kunst, die Welt in Fragen zu begreifen. Ins Zentrum der verquasten heilsgeschichtlichen Lohengrin-Story mit dem geistfeindlichen Gebot »Nie sollst du mich befragen« stellt er eine zweifelnde Frau, Elsa, die genau dieses quasi-christliche Frageverbot emanzipiert zurückweist. Es herrschen im Brabant des kirchlich dominierten Mittelalters wie in allen autoritären Gesellschaften Verbote, den Zweifel auch nur zu denken.
Sharon inszeniert seinen Lohengrin als Spender jenes Kraftwerks, das Strom liefert, um die Emanzipation des Geistes zu ermöglichen. Die Skepsis sieht Sharon als Tugend, den Zweifel entwickelt er zum Gebot und die aufklärerische Frage zum Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den Menschen, der Obrigkeit und mit Gott.
Gegenentwurf Er inszeniert mit einer starken und intelligenten Elsa den liebenden Gegenentwurf zum christlichen Gehorsam. Elsa tritt Lohengrin gleichberechtigt entgegen, hoch erhobenen Hauptes. Graublau gekleidet im Stil einer Delfter Kachel, wendet sich das Futter ihres Mantels in der Hochzeitsnacht schon ins Lachsfarbene, in die Komplementärfarbe.
Elsa gehorcht nicht. Sie will wissen, wie ihr Mann heißt und wer er ist. Sie bricht das Denkverbot. Sie wird einsam, aber sie geht, obwohl sie Lohengrin verliert, stolz als Siegerin von dannen, zu erkennen als einziger Mensch in Brabant mit einem knallorangefarbenen Gewand. Sie trägt als Gleichnis einen leuchtenden pfirsichfarbenen Tornister auf dem Rücken, die Last des Intellekts.
Bei Sharon stirbt sie nicht, wie von Wagner gewünscht. Lohengrin verschwindet im Dunkel der Zeit, Elsa tritt leuchtend im Vordergrund der Bühne ab. Sharon hätte die Oper am liebsten Elsa genannt. Die piefig schauerlichen Deutschtümeleien (»Für deutsches Land das deutsche Schwert«) verlieren an Kraft ob Elsas Mutes, Fragen zu stellen und Antithesen zu bilden.
Skepsis Diese jüdische Sicht auf eine fragende Welt tut Bayreuth ebenso gut wie der jüdische Humor, mit dem Barrie Kosky im vergangenen Jahr in Bayreuth – und auch diese Saison wieder unter großem Applaus, aber auch begleitet von empörten Buh-Rufen – seine Meistersinger von Nürnberg inszeniert hat.
Und Wagner, der elende Antisemit, wie geht Sharon mit der Last dieser Figur und dem Grauen des Ortes zur Nazizeit um? Wagner trage zu viele Schichten in sich, so der hervorragend deutsch sprechende 39-jährige Regisseur, er will ihn deshalb nicht auf seine Judenfeindlichkeit reduzieren. Gehört Wagner nach Israel? Ja, antwortet er, unbedingt. Sharon sei vollkommen auf Barenboims Seite, er würde Wagner liebend gern in Israel inszenieren, und zwar die Meistersinger, die deutscheste aller Wagneropern.
Sharons Mutter, die ihren Sohn im Fränkischen besuchte, war beeindruckt von der Dauerausstellung über jüdische Künstler in Bayreuth. Und nach meinem Gespräch mit dem Regisseur überreicht mir eine Pressedame der Festspiele das gerade erschienene Kompendium des Wagnerdiskurses vom vergangenen Jahr mit dem Titel Sündenfall der Künste? Richard Wagner, der Nationalsozialismus und die Folgen. Texte, Interviews und Streitgespräche über die Nachbarschaft zwischen Kunst und Barbarei bei Wagner bilden den Mittelpunkt eines höchst lesenswerten Buches mit Beiträgen von Micha Brumlik, Elisabeth Bronfen, Larry Wolff und vielen anderen.
jubel Bayreuth, so der abschließende Eindruck, öffnet sich jüdischen Geisteswelten. Und last but not least: Der neue Lohengrin ist auch musikalisch und gesanglich meisterlich und rauschhaft, gar epochal, weil nie so warm und gleißend gehört. Piotr Beczala als Lohengrin, Anja Harteros als Elsa und Waltraud Meier als Ortrud entfalteten unter dem Dirigat von Christian Thielemann eine dramatische Spannung, die in minutenlangem Schlussjubel endete.
Kleine Mäkeleien verkneifen wir uns. Überlassen wir sie den sich wahrhaft wichtig wähnenden Wagnerianern. Die Kritikerin dieser Zeitung jedenfalls war auf dem Hügel in diesem Jahr, nun die allerletzte Alliteration, glühend glücklich. Und das lag nicht an den hochsommerlichen Temperaturen.