Synagogalmusik

»Liturgie salonfähig machen«

Der Musikprofessor und Hausherr der Villa Seligmann: Andor Izsák Foto: dpa

Orgel und jüdische Tradition – das passt nicht zusammen, mag mancher meinen. »Und ob«, sagt Andor Izsák. Seit Jahrzehnten sammelt der Professor auf der ganzen Welt Synagogenorgeln – oder das, was die Nazis davon übrig gelassen haben. Fast ein Leben lang hat sich Izsák dieser Aufgabe verschrieben.

Herr Izsák, wie viele Synagogenorgeln haben Sie inzwischen gesammelt?
Sieben. Die Zahl scheint nicht groß, aber es ist ein Wunder, dass es diese Synagogenorgeln heute überhaupt gibt. Es geht mir um eine wunderschöne liturgische Tradition, die ab 1810 von Deutschland aus in die Welt ging. Aber die Nazis waren so etwas von gründlich bei der Ausrottung dieser Kultur, dass man meinen könnte, sie hätte gar nicht existiert. Dabei gab es vor der Schoa in praktisch jeder größeren Stadt eine Synagoge mit Orgel.

Wo kann man so eine Orgel heute hören?
Nur in der Villa Seligmann in Hannover. Hier steht eine Synagogenorgel, die vollständig restauriert ist und im Originalzustand erklingen kann. Darauf bin ich unglaublich stolz.

Woher kam sie, und worin unterscheidet sie sich von einer Kirchenorgel?
In den 80er-Jahren, als schon einigermaßen bekannt war, dass ich mich für die Synagogalmusik einsetze, erfuhr ich, dass in einer katholischen Kirche in der Nähe von Mainz eine solche Orgel steht. Sie hat in der Mitte 13 Pfeifen und an der Seite sieben nach diesen typisch jüdischen mystischen Zahlen: Mit 13 Jahren geht ein Junge zur Barmizwa, und sieben steht für den siebenarmigen Leuchter. Ich bin hingefahren, habe die Orgel gespielt und musste weinen. Das war die Stimme der einzigen überlebenden Syna­gogenorgel. Dieser historische Klang ist schlicht faszinierend.

Können Sie das näher erklären?
Vereinfacht ausgedrückt, ist eine Synagogenorgel romantisch gestimmt und klingt weicher, während viele Kirchenorgeln eher barock und damit pointierter gestimmt sind. Der Einzug der Orgel in eine Synagoge 1810 in Seesen, einer kleinen Gemeinde im Harz, war die Initialzündung des liberalen Judentums.

Ihre Eltern waren orthodoxe Juden. Wie sind Sie zur Orgel gekommen?
Das ist eine unglaubliche Geschichte. Mit neun oder zehn Jahren nahmen mich meine Eltern ins Kino mit, wo es einen Film über den Dirigenten Roberto Benzi gab. Er war als Kind fasziniert von einer Kirchenorgel, die der alte Pfarrer spielte. Ich war hingerissen und habe den Film mehrfach angesehen. Dann kam eine Frau, die im Geheimen Nonne war. Das war im kommunistischen Ungarn verboten. Sie nahm mich mit in eine katholische Kirche und fragte den Organisten, ob ich etwas spielen dürfe. Ich kam mit den Füßen noch nicht an die Pedale, aber ich habe gespielt und gesagt: Das ist mein Leitmotiv, das mich mein Leben lang begleiten wird.

Sie spielten also heimlich in einer Kirche?
Ja, und später in der Großen Synagoge in Budapest auf der damals drittgrößten Orgel der Welt. Auf der hatten schon die Komponisten Franz Liszt und Camille Saint-Saëns gespielt. Diese Orgel war eine Sensation! Der Organist dort war ein Salesianerpater, denn das Orgelspielen ist Arbeit und daher für Juden am Schabbat verboten. Dieser Pater wurde mein Lehrer. Er hat mir alles beigebracht.

Später haben Sie Musik studiert und sind durch Ihre Frau, Erika Lux, eine gefeierte Pianistin, nach Deutschland gekommen. Dort haben Sie sich neben der Orgel besonders für die Musik von Louis Lewandowski engagiert. Warum gerade dafür?
Weil er der größte jüdische Komponist aller Zeiten ist. Er war das erste jüdische Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Ich habe viele Werke von ihm aufgeführt und auch eines entdeckt, worauf ich stolz bin: »18 Liturgische Psalmen« in deutscher Sprache, was sehr ungewöhnlich ist in der jüdischen Tradition. Nach einigem Hin und Her ist es mir gelungen, dass dieses Werk zu Lewandowskis 100. Todestag bei Breitkopf & Härtel verlegt wurde. Seitdem ist es ein »Schlager« für Kirchenchöre und alle möglichen anderen Chöre.

1988 haben Sie in Augsburg das Europäische Zentrum für Jüdische Musik gegründet. Wie kam es später nach Hannover?
Über Umwege – und wiederum durch meine Frau – erhielt ich einen Ruf an die dortige Musikhochschule. Ich ging aber nur unter der Bedingung, dass ich mein Zentrum mitnehmen kann. So ist es ein Hochschul­institut geworden – mit allen aka­demischen Freiheiten. Denn wenn ich einen Anruf bekam, dass in einer Garage in Kapstadt die Musik der Leipziger Synagoge aufgetaucht ist, war ich am nächsten Tag dort und holte die Sachen nach Hannover. So ist die »Sammlung Andor Izsák« entstanden, die der Kern der Forschung in der Villa Seligmann ist.

Für Ihr Engagement für die jüdische Musik haben Sie viel öffentliche und private Unterstützung erhalten.
Ich habe gute und wichtige Leute kennengelernt, ob durch Zufall oder Schicksal: zum Beispiel Richard von Weizsäcker, Rita Süssmuth, später Gerhard Schröder und Unternehmer wie Dirk Rossmann und Martin Wennemer. Vor allem aber hat mich Yehudi Menuhin ermutigt und gefördert. Er sagte: »Du musst das machen, du hast vom lieben Gott diese Verantwortung bekommen.«

Wie fällt – mit Blick auf Ihren 75. Geburtstag am Samstag – eine Zwischenbilanz des Erreichten aus?
Für mich ist das Größte und Wichtigste, dass meine Musik in nichtjüdischen Institutionen, in Kirchen und Schulen lebt. Ich will nicht übertreiben, aber es ist mir gelungen, diese Musik in die hochnäsige deutsche, elitäre Musikkultur hineinzuschmuggeln. Vielleicht hat man das gar nicht gemerkt. Wenn ich in meinem Leben ein bisschen Erfolg hatte, dann damit, dass ich die jüdische liturgische Musik salonfähig gemacht habe.

Das Gespräch führte Sabine Kleyboldt.

BIOGRAFIE

Andor Izsak, Pionier der jüdischen Sakralmusik und Sammler von Synagogenorgeln wurde im letzten Kriegsjahr im Budapester Ghetto als Sohn orthodoxer Juden geboren. Als Kind lernte er durch einen Kinofilm die Orgel kennen und spielte durch Vermittlung einer Ordensfrau heimlich in einer katholischen Kirche sowie an der Großen Synagoge in Budapest. Später studierte er Musik, war Dozent unter anderem am Konservatorium und kam Anfang der 80er-Jahre durch seine Frau, die Konzertpianistin Erika Lux, nach Deutschland.

Izsak engagiert sich zeitlebens besonders für Sammlung, Restaurierung und Erhalt von Synagogalorgeln, von denen er sieben aufgespürt hat. Vor dem Holocaust gab es in den meisten größeren liberalen Synagogen Orgeln, also insgesamt bis zu 400. Dagegen lehnen orthodoxe Juden den Einsatz dieses klassisch christlichen Instruments ab. Die laut Izsak besterhaltene Synagogenorgel steht in der Villa Seligmann in Hannover. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Förderung des Werks von Louis Lewandowski, des »größten jüdischen Komponisten aller Zeiten«.

Am 9. November 1988, dem 50. Jahrestag der Pogrome von 1938, gründete Izsak in Augsburg das Europäische Zentrum für Jüdische Musik (EZJM), das 1992 ein Institut der Musikhochschule Hannover wurde. Dort hatte er von 2003 bis 2012 die erste Professur für synagogale Musik inne. Sitz des EZJM ist heute die Villa Seligmann in Hannover, früherer Familiensitz des Unternehmers Siegmund Seligmann (1853-1925). Für den Erwerb des repräsentativen Gebäudes, wo das Zentrum 2012 neu eröffnet wurde, erhielt der vielfach ausgezeichnete Izsak Unterstützung unter anderem von Bund und Land Niedersachsen, der Stadt Hannover sowie von verschiedenen Unternehmern.

Seinen 75. Geburtstag feiert der Ehrenpräsident der Siegmund-Seligmann-Stiftung mit Familie und Freunden aus aller Welt; darüber hinaus richtet die Landeshauptstadt Hannover zu diesem Anlass ein großes Fest aus.

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