Franz Kafka

Literarischer Gigant

Franz Kafka

Franz Kafka

Literarischer Gigant

Vor 100 Jahren starb der legendäre Schriftsteller. Sein Werk hat die Literatur und unser Denken revolutioniert wie kein zweites. Eine Würdigung

von Vivian Liska  30.05.2024 09:07 Uhr

Franz Kafka ist einer der wichtigsten Autoren der Moderne und trotz seines eher schmalen Œuvres ein literarischer Gigant. In den beiden Jahrzehnten, in denen er seine wichtigsten Texte schrieb, erfasste er die entscheidenden Umwälzungen seiner Zeit. Unvollendete Romane, Erzählungen, Kurztexte und Aphorismen reflektieren die Krisen der modernen Lebenswelt und die Konsequenzen dessen, was Friedrich Nietzsche als den »Tod Gottes« und Georg Lukács als die »transzendentale Obdachlosigkeit« bezeichnet hat.

Wie kaum ein anderer macht Kafka das Verschwinden stabiler Weltbilder und die daraus folgende Verunsicherung von Wahrheit und Wirklichkeit erfahrbar. Die großen Ideale der Aufklärung, wie die Autonomie des Subjekts, die Vorherrschaft der Vernunft und die Errungenschaften des Fortschritts, wurden in der Zeit, in der Kafka schrieb, infrage gestellt, nicht zuletzt durch den Ersten Weltkrieg.

Franz Kafka: »Ich bin Ende oder Anfang.«

Kafka sagte von sich selbst: »Ich bin Ende oder Anfang.« Das ist eine Umkehrung des christlichen Glaubenssatzes »Ich bin das Alpha und das Omega«, ein Anspruch von Totalität. Indem Kafka Anfang und Ende umkehrt und das »Und« zu einem »Oder« werden lässt, unterwandert er die Idee von Ganzheit und führt eine fundamentale Ungewissheit in diese Vorstellung ein. Gerade in unserer von Kriegen und Gewalt erschütterten Gegenwart finden sich viele Leser in Kafkas Texten wieder, etwa wenn er im Fragment »Nachts« von der »Selbsttäuschung« vieler Menschen spricht, »daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach«.

Trost ist bei Kafka kaum zu finden. Doch gerade die Verunsicherung, die seine Texte bewirken, erzeugt das Bewusstsein, mit einer Grunderfahrung des Menschseins konfrontiert zu werden. Wer Kafkas Texte nicht nur gelesen, sondern buchstäblich am eigenen Leib erfahren hat, ist sensibilisiert und stellt an die Welt andere Erwartungen. Kafka nimmt uns die Selbstverständlichkeit, das Dahinleben.

Er eröffnet eine Art primäre Vision auf das Leben, in dem es weder Ursprung noch Ankommen, weder festen Boden unter den Füßen noch einen schützenden Himmel über dem Kopf gibt. In seinen großen Romanen erscheint eine enorme Instanz, die aber nicht greifbar ist. Das Schloss erreicht man nie, der Gerichtshof ist überall und nirgends. Man bekommt das Gefühl von etwas ganz Großem, das allerdings für den modernen Menschen nicht mehr verfügbar ist.

Kafka wendet sich der Welt zu, auch ohne Hoffnung auf Erfüllung.

Kafkas bekanntes Zitat: »Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir selbst gemeinsam« wurde als Absage an das Judentum verstanden, doch erweist sich die Unfähigkeit, ganz zu einer Gemeinschaft zu gehören, als eine Gespaltenheit, wie sie der moderne Mensch vielfach erfährt.

Als Kontrast findet man in Kafkas Tagebüchern Begeisterung für das jiddische Theater, das ihm die Welt der Ostjuden nahebrachte. In seiner »Rede über die jiddische Sprache« von 1912 konfrontiert er seine größtenteils akkulturierten, verbürgerlichten Zuhörer mit der Lebenskraft dieser anderen jüdischen Welt.

Bezug auf die Hebräische Bibel

In einigen seiner Texte bezieht sich Franz Kafka ausdrücklich auf die Hebräische Bibel. Es gibt faszinierende Kurztexte von ihm über Moses, über Abraham oder den Turmbau zu Babel. In diesen Texten ist eine wirkliche Weltbejahung zu finden, die ein anderes Licht auf den gemeinhin als weltabgewandt und düster betrachteten Autor wirft.

Da ist von Moses die Rede, der von der Begegnung mit Gott auf dem Sinai zwar nichts berichten kann, doch zu den Menschen zurückkehrt und sie noch mehr liebt als zuvor. Da ist ein Abraham, der sich zwar weigert, seinen Sohn zu opfern, doch seine Gottesfurcht beweist, indem er sich, anstatt auf den Berg Moria zu gehen, um sein Haus kümmert.

Auf den ersten Blick scheinen diese Texte die biblischen Erzählungen auf den Kopf zu stellen. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass sie sehr wohl mit dem Geist der biblischen Erzählungen übereinstimmen: Auch in der Bibel hat Moses von Gott nur den Rücken gesehen, doch bringt er den Menschen das Geschenk des heiligen Buchs. Auch in der Bibel hält ein Gottesbote Abraham im letzten Augenblick davon ab, seinen Sohn zu opfern.

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Alter meint, dass Kafka die biblischen Geschichten um 180 Grad umkehrt. Doch Kafka wendet sie um 360 Grad und führt sie zurück zu ihrer eigentlichen Aussage. Denn auch in der Bibel soll der Mensch sich um die Welt kümmern, und der Talmud ist in erster Linie eine Anordnung für das tägliche Leben, das im Judentum wichtiger ist als Furcht und Zittern vor Gott. So heißt es in der jüdischen Tradition: »Die Tora ist nicht im Himmel, sondern auf Erden.«

Verunsicherung und Weltbejahung

Zusammengenommen ergeben diese beiden Aspekte von Kafkas Weltsicht – Verunsicherung und Weltbejahung – eine große Erwartung, eine Aufgabe, sich der Welt in all ihrer Ungewissheit und Fragilität zuzuwenden, auch ohne Hoffnung auf ein Ankommen oder Erfüllung. Sein eigenes Schreiben war für Kafka eine solche Aufgabe. Seine Erzählungen sind gleichermaßen fragmentarisch und unendlich.

Jeder Interpret ist versucht, eigene Vorstellungen und Weltbilder auf Kafkas Texte zu projizieren, um die eine, endgültige Deutung hervorzubringen. Doch ebenso wie es in seinen Erzählungen kaum ein erreichtes Ziel und keine endgültige Sicherheit gibt, so gibt es diese auch nicht für die Leser dieser unendlich deutbaren Schriften.

Die Autorin ist Professorin für deutsche Literatur an der Universität Antwerpen.

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025

Hollywood

Scarlett Johansson macht bei »Exorzist«-Verfilmung mit

Sie mimte die Marvel-Heldin »Black Widow« und nahm es in »Jurassic World: Die Wiedergeburt« mit Dinos auf. Nun lässt sich Scarlett Johansson auf den vielleicht düstersten Filmstoff ihrer Laufbahn ein

 25.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Sderot

Zweitägiges iranisches Filmfestival beginnt in Israel

Trotz politischer Spannungen will das Event einen Dialog zwischen Israelis und Iranern anstoßen

von Sara Lemel  24.11.2025