Krieg gegen die Ukraine

Lieder als Waffen

Es war Oktober 1999, und wir tranken Rotwein mit meinem Freund Wladimir Kaminer in dessen Wohnung in der Dunckerstraße. Unsere Unterhaltung über Musik und Literatur wurde von einem Anruf aus dem »Café Zapata« unterbrochen. Eine Band war kurzfristig abgesprungen, und der Betreiber suchte verzweifelt nach einem Ersatz.

Er fragte, ob Wladimir an diesem Abend vielleicht vorlesen könne. Obwohl Wladimir zu dieser Zeit mit seinen Kurzgeschichten die Berliner Lesebühnen eroberte, schien eine Lesung in einem Punk-Schuppen im besetzten Haus Tacheles keine gute Idee zu sein. In diesem Moment hatte seine Frau Olga einen genialen Einfall: Wie wäre es stattdessen mit einer Party?

Eine Party – warum nicht? Unser Konzept war frech und einfach. Wir waren sicher, dass moderne Musik aus Osteuropa in Berliner Klubs eher Mangelware ist. Wladimir hatte von der Vorgabe des DDR-Kulturministeriums gelesen, dass das Repertoire von Diskotheken zu 70 Prozent aus Stücken von Ostmusikern bestehen sollte – im Volksmund hießen solche Veranstaltungen deshalb »Russendisko«.

Da lag es auf der Hand, dass wir unsere Party auch so nennen mussten. Willkommen in der Berliner Russendisko, wo es zwar weder Russen noch Disko gibt, dafür aber einen Moskauer und einen Charkiwer Juden, die Punk und Ska aus den ehemaligen Sowjetstaaten auflegen!

Unter dem Label »Russendisko« konnte ich nicht mehr auflegen.

Die erste Party war ein voller Erfolg, und schon ab November 1999 hat unser DJ-Duo zweimal im Monat im »Kaffee Burger« aufgelegt. In den folgenden Jahren bereisten wir mit unserem Musikkoffer die Welt, von Warschau bis nach Tokio.

Von Anfang an waren ukrainische Bands ein fester Bestandteil unseres Programms. Die Kiewer Vopli Vidopliassova und die Braty Hadiukiny aus Lwiw, der Soundtrack der frühen Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit, durften in meinen DJ-Sets nicht fehlen. Beide Bands unterschieden sich deutlich von ihren Vorgängern, deren Inspirationen aus St. Petersburg und Moskau kamen.

Während der Rock der Dostojewski-Erben oft düster und politisch war, brachten Vopli die Freuden der Dorfklubtänze zum Ausdruck und setzten auf das Knopfakkordeon statt auf verzerrte Gitarren. Der beliebteste Hit von Braty Hadiukiny forderte dazu auf, die Asche nicht abzuschütteln, den Joint zu Ende zu rauchen und nach Ternopil zu fahren – eine wunderschöne Stadt. Eine Auswahl der von uns gespielten Lieder kam auf einer CD heraus und erfreute sich großer Beliebtheit.

Gründung einer eigenen Plattenfirma

Weitere Veröffentlichungen folgten, bis schließlich Wladimir und ich unsere eigene Plattenfirma gründeten. Als wir 2008 die Songs für die neue Compilation zusammenstellten, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie alle, ohne Ausnahme, von ukrainischen Künstlern stammten. Sowohl der Sound als auch ihre Lebensfreude und ihr Humor entsprachen zu 100 Prozent meiner Vision vom idealen Material für den Dancefloor.

Obwohl der Name Russendisko ursprünglich scherzhaft gemeint war, merkte ich im Februar 2014, dass ich unter diesem Label nicht mehr auflegen konnte. Es war mir einfach nicht recht, da ich in den letzten Monaten nichts anderes als ukrainische Musik im Plattenkoffer hatte. Das Projekt Russendisko war für mich mit dieser Erkenntnis beendet. 2016 bot sich mir erneut die Gelegenheit, aktuelle Songs ukrainischer Künstler für eine CD auszuwählen.

Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass war auch die Stimmung auf dem neuen Sampler ganz anders. Borsh Division – Future Sound Of Ukraine ist ein Querschnitt durch die ukrainische Musikszene nach der Maidan-Revolution geworden. Darauf beschäftigten sich die Künstler auf vielfältige Weise mit der Geschichte ihres Landes – mit den traditionellen Liedern wie DakhaBrakha und Mariana Sadovska, oder mit der Poesie der »Hingerichteten Renaissance«, wie Hycz Orkestr.

Lebhaftes Roots-Reggae-Arrangement

Herausragend ist der gemeinsame Song des Lwiwer Liedermachers Taras Chubay und der Kiewer Ethnorockband Kozak System. Mit seinem lebhaften Roots-Reggae-Arrangement, bei dem die genreüblichen Bläser durch Akkordeons ersetzt wurden, erinnert er an Klassiker wie Burning Spear oder Culture. Das Original stammt allerdings aus dem Jahr 1850 und erzählt die Geschichte eines Kosaken, der seit über 200 Jahren versucht, aus russischer Gefangenschaft zu entkommen.

2017 haben wir auf einer Tour durch den Donbass für die Soldaten gespielt.

Ebenfalls auf Borsh Division vertreten sind Zhadan i Sobaky. Im Jahr 2008 wagte der Schriftsteller Serhij Zhadan erstmals, seine Texte zur Musik einer Punkband vorzutragen – und blieb dabei. Aus diesem einmaligen Experiment hat sich in der Zwischenzeit eine erfolgreiche Band entwickelt. 2017 haben wir ein gemeinsames Album aufgenommen und sind damit auf eine Tour durch den Donbass gegangen. Wir haben für die Soldaten gespielt und Konzerte in Kostjantyniwka, Bachmut und Mariupol gegeben. Mit eigenen Augen sah ich damals die Region, wo der Krieg zur Realität wurde, lange bevor die Welt ihn zur Kenntnis nahm.

Es ist schwer vorstellbar, dass einige der Themen, die Zhadan i Sobaky auf ihrem neuesten Album behandeln, in einem anderen Land gerade denkbar wären. Ein Stück über Kinder, die sich in der U-Bahn vor den Bomben verstecken, zum Beispiel – eine erschütternde Momentaufnahme aus der Ukraine des Jahres 2022. Und »Überlebe, es ist erst der Anfang«, der Refrain des Songs »17«, der an alle Jugendlichen gerichtet ist, klingt für einen ukrainischen Teenager, dessen Land seit zehn Jahren im Krieg ist, anders als für den Rest der Welt.

Über den Krieg und seine Folgen zu singen, dies ist eine bewusste Entscheidung vieler ukrainischer Künstlerinnen und Künstler von heute. Ihre Lieder sind zu Waffen geworden – ihr Beitrag zum Kampf gegen die Invasoren.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025