»Ein Sack voll Murmeln«

Liebe in Zeiten des Krieges

Müssen die Flucht ohne ihren Vater antreten: Maurice und Joseph Foto: Thibault Grabherr – Quad

Bist du Jude?», fragt der Vater den Sohn. «Nein», antwortet Joseph und bekommt eine schallende Ohrfeige. Der Vater wiederholt die Frage mehrfach und schlägt dem Jungen immer wieder ins Gesicht. Am Schluss nimmt er ihn in den Arm und sagt: «Es ist besser, eine Ohrfeige auszuhalten, als zu sterben, weil man Angst davor hat.»

Es ist eine Abschiedslektion, die Joseph (Dorian Le Clech) und sein älterer Bruder Maurice (Batyste Fleurial Palmieri) lernen müssen, denn ab jetzt sind sie auf sich allein gestellt. Die Deutschen haben im besetzten Paris des Jahres 1941 angefangen, die jüdische Bevölkerung zu deportieren. Die Brüder müssen sich alleine nach Südfrankreich durchschlagen, weil eine ganze Familie auf der Reise zu auffällig wäre. Genauso wie die Söhne ist deren Vater Roman (Patrick Bruel) einst von seinem Vater weggeschickt worden, als er vor den Pogromen aus Russland flüchten musste.

Abenteuer Natürlich haben die beiden Jungs Angst und leiden unter der Trennung von den Eltern. Aber die Reise ist für sie auch ein großes Abenteuer. Sie haben Glück und geraten an den richtigen Schlepper, der sie durch den Wald über die Grenze bringt und sie nicht im Stich lässt, als die deutschen Patrouillen auftauchen. Schließlich kommen sie in Nizza an, das von den Italienern besetzt ist, die weniger rigide regieren. Hier treffen sie auch die Eltern wieder – doch das Glück der Familienzusammenführung währt nicht lange, weil nach dem Sturz des faschistischen Diktators Mussolini die Deutschen in Nizza einmarschieren.

Joseph Joffos Roman Ein Sack voll Murmeln aus dem Jahr 1973 gehört in Frankreich zu den bekanntesten Jugendbüchern über die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Jacques Doillon hatte den Stoff bereits zwei Jahre nach Erscheinen des Romans verfilmt, und nun nimmt sich der frankokanadische Regisseur Christian Duguay (Pius XII., The Art of War) erneut der Vorlage an. Duguay verschreibt sich voll und ganz der Kinderperspektive, aus der heraus das Leben zwischen Krieg und Vertreibung ein stetes Wechselbad der Gefühle darstellt.

Angst und Abenteuerlust, Verlassenheitsgefühle und Bruderliebe, vollkommene Überforderung und erstarkendes Selbstbewusstsein liegen für den zehnjährigen Jungen dicht beieinander. Das spiegelt sich auch in der visuellen Gestaltung des Kameramanns Christophe Graillot, der immer wieder zu befreiten Fahrten durch die weiten Landschaften der Provence ausholt und diese mit der Enge in Waisenheimen und Notunterkünften kontrastiert.

Erzählweise Trotz der eher konventionellen Erzählweise findet Duguay vor allem dank seiner hervorragenden jungen Darsteller immer wieder den richtigen Erzählton für den Pulsschlag der Kinder, die den grausamen Verhältnissen ausgeliefert sind und sich auf Gedeih und Verderb in ihnen zurechtfinden müssen.

Damit reicht die Geschichte an die Intensität von Pepe Danquarts wichtigem Film Lauf, Junge, lauf! (2013) heran, der ebenfalls basierend auf den Kindheitserinnerungen eines Schoa-Überlebenden die Flucht eines Jungen beschrieben und die Kindheitsperspektive ebenso radikal eingenommen hatte.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025