Nemesis

Liebe in Zeiten der Polio

Zu spät für Philip Roths Romanheld: Erste amerikanische Polioimpfung 1954 Foto: imago

Ein Idyll ist die spießige Stadt Newark im amerikanischen Bundesstaat New Jersey wohl nie gewesen, auch nicht ihr jüdisches Viertel Weequahic. Philip Roth hat dort eine ganze Reihe von Romanhandlungen angesiedelt und dabei wiederholt die kleinbürgerliche jüdisch-amerikanische Familie als Biotop von Neurosen beschrieben.

Auch Roths jüngster Roman Nemesis, der diese Woche auf Deutsch erschienen ist, spielt wieder in Weequahic. Und wieder stellt der Autor die gebrochene Biografie eines amerikanischen Juden ins Zentrum. Man schreibt den langen, heißen Sommer 1944. Bucky Cantor, 23 Jahre alt, ein Muskelpaket, aber Brillenträger und deshalb untauglich für den Dienst in der gegen Japan und Deutschland kämpfenden Army geschrieben, betreut als Sportlehrer die Kinder der jüdischen Gemeinde.

Er macht diese Arbeit mit großer Hingabe, auch wenn er lieber mit seinen Freunden vom College im Pazifik und in der Normandie kämpfen würde. Da bricht eine Polioepidemie aus, der immer mehr Kinder zum Opfer fallen. Zuerst wollen Eltern und Kinder die Gefahr nicht wahrhaben. Auch Bucky versucht, den Sportbetrieb, so gut es geht, aufrechtzuerhalten. Dann gibt es die ersten Toten. Die Eltern reagieren entsetzt, manche hysterisch.

epidemie Roths Romanheld ist ein Mann von Ehre und Gewissen. Er will »seine« Kinder eigentlich nicht in der Not alleine lassen. Doch nach längerem inneren Ringen entschließt er sich dann doch, zu seiner Verlobten Marcia Steinberg zu flüchten, die, scheinbar weitab von der Kinderlähmung, in einem Sommercamp als Lehrerin arbeitet. Zurück in Newark bleibt Buckys Großmutter, bei der er aufgewachsen ist, nachdem die Mutter bei seiner Entbindung gestorben und der Vater als Dieb aus seinem Leben verschwunden war.

Es könnte zwischen Marcia und Bucky geradezu paradiesisch zugehen. Doch die Polioepidemie holt sie ein und bricht auch in dem beschaulichen Sommercamp aus. Marcias beide jüngere Schwestern werden von der Krankheit befallen – und auch Bucky bleibt nicht verschont. Zudem erhält er von der Großmutter die traurige Nachricht, dass einer seiner besten Freunde im fernen Europa gefallen ist. Für den gutmütigen Bucky, der für alle immer nur das Beste will, bricht eine Welt zusammen. Jetzt sitzt er selbst im Rollstuhl, durch die Kinderlähmung verkrüppelt. Die Heirat mit Marcia will er nun auch nicht mehr. Er sieht sich als verantwortlich an für die Katastrophe, die über Stadt und Land hereingebrochen ist.

Dreißig Jahre später trifft der Romanheld seinen ehemaligen Schüler Arnie, der sich im Buch als Ich-Erzähler erst nach mehr als 100 Seiten zu erkennen gibt. Von ihm erfahren wir, wie sich Bucky, mit seinem jüdischen Gott hadernd, mühsam durchs Leben schlägt, wie er auf alles verzichtet hat, was ihn trotz seiner Erkrankung hätte weiterbringen können, wie er Marcia mit seiner Sturheit vor den Kopf gestoßen hat …

gottverlassen Die Gestalt des Bucky Cantor, den sein Vorgesetzter mit antisemitischer Boshaftigkeit »Cancer« nennt, also Krebs, hat viel von Hiob, dem großen Dulder. Roth hat seiner Figur ein schweres Päckchen geschultert, eine moralische Last aufgehalst, unter der Bucky einfach zerbrechen muss. Die titelgebende Nemesis ist eben nicht nur die antike Göttin des gerechten Zorns. Sie ist auch diejenige im Olymp, die – wie es im Buch heißt – »herzlos Liebende bestraft«.

Die Polioepidemie, von der Nemesis erzählt, hat es in Wirklichkeit nicht gegeben. Hinter der Gestalt des scheiternden Juden Bucky Cantor, dessen Aufrichtigkeit und Gutwilligkeit von »seinem« Gott nicht belohnt werden, sucht Roth das Universelle, das sich im jüdisch-amerikanischen Schicksal verbirgt. Und dies in einer für seine Verhältnisse eher schlichten, aber präzisen Sprache, die sich am Vorbild der klassischen Short Story orientiert. Auch dieser neue Roman bestätigt, dass Philip Roth zu den wichtigsten zeitgenössischen Prosaisten überhaupt zählt.

Philip Roth: »Nemesis«. Übersetzt von Dirk van Gunsteren. Hanser, München 2011, 218 S., 18,90 €

Berlin

Berlinale gedenkt Opfers des Angriffs am Holocaust-Mahnmal

Am Vorabend wurde ein spanischer Tourist von einem syrischen Flüchtling, der Juden töten wollte, mit einem Messer angegriffen

 22.02.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025