Herr Shteyngart, Sie sind gerade auf Lesereise quer durch Europa unterwegs, mit Stationen in Frankreich, Spanien, der Ukraine und Deutschland. Wie begegnet Ihnen das Publikum bisher?
Ausgesprochen interessiert. Zu Hause in den USA würde niemand eine zweieinhalbstündige Lesung ertragen. Sobald jemand eine dumme Frage stellt, gehen die Leute nach Hause. Hier hingegen hören sie geduldig zu und stellen kluge Fragen. Das ist sehr angenehm.
Woran liegt das? Haben Bücher in Europa einen anderen Stellenwert als in den USA?
Amerikaner lesen nicht. In den USA leben wir in einer Kultur des extremen Selbstausdrucks. Es gibt mittlerweile mehr Schriftsteller als Leser in Amerika. Twitter und Blogs suggerieren, dass jeder ein brillanter Autor sein kann. Was jedoch niemand tun will, ist lesen. Lesen ist ein Akt der Empathie. Man muss den Bereich eines anderen Menschen betreten, sich einfühlen können, um zu schreiben. Es gab eine Zeit in den USA, in den 50er- und 80er-Jahren, als Schriftsteller hoch angesehen waren. Das ist vorbei.
Was haben Sie auf Lesereisen durch die USA erlebt?
Es war die emotionalste Reise, die ich jemals gemacht habe: Viele russisch-jüdische Immigranten kamen auf mich zu und beschrieben ähnliche Erfahrungen. Das ist mir übrigens auch hier in Deutschland passiert.
Sie haben als Siebenjähriger mit Ihren Eltern Leningrad in Richtung USA verlassen. Woran erinnern Sie sich?
Die stärksten Erinnerungen habe ich an die Propaganda. All die Slogans um mich herum – Wir sind die Besten, erobern die Welt und den Kosmos. Als Kind war ich mit der Idee indoktriniert, dass ich an etwas Großes glauben müsse. Dann kamen wir nach Amerika. Da hieß es dann plötzlich: Kein Kommunismus mehr, jetzt musst du an Hardcore-Kapitalismus glauben und ans Judentum.
Ein Glaubenssystem wurde also durch das andere ausgetauscht?
Ja, so ungefähr. Das führte dazu, dass ich eine Zeit lang intensiv an alles Mögliche geglaubt habe. Ich habe alles sehr ernst genommen: Ich verschlang republikanische Ideen in rechtsgerichteten Zeitungen, und ich war der erbarmungsloseste Chametz-Jäger an Pessach. Natürlich hat das irgendwann aufgehört.
Welche Rolle spielt Judentum heute für Sie?
Ich pflege die Art Kulturjudentum, die es in Amerika gibt: Literatur, Filme, TV-Serien – so wie die Serie »Transparent« um die Familie Pfefferman auf Amazon Instant Video, eine der besten Serien zu zeitgemäßem Judentum seit Langem. Judentum spielt eine eher untergeordnete Rolle in meinem Leben, aber eine, der ich nicht entkommen kann.
Und wo fühlen Sie sich zu Hause?
Das ist lokal sehr begrenzt: Heimat beginnt für mich in Manhattan und erstreckt sich bis 100 Meilen nördlich zu meinem Landhaus.
Welche Aspekte aus allen Welten, die Sie mit sich tragen – Judentum, Russland, USA – haben Sie und Ihr Schreiben geprägt?
Alles zusammen! Die besten Autoren in den USA waren oder sind Immigranten. Immigranten machen alles in den USA – Taxifahren, Kinderkriegen und Romane schreiben, während die Amerikaner damit beschäftigt sind, zu tweeten und zu posten. Die kulturellen Herausforderungen des Landes liegen auf unseren Schultern, und wir übersetzen den Rest der Welt für Amerikaner: Immigranten-Schriftsteller erfüllen also eine nützliche Funktion.
In Ihrem aktuellen Buch »Kleiner Versager« beschreiben Sie sich selbst mit viel Selbstironie. Ist Distanz ein Nebenprodukt von Immigration?
Ja, mehr Selbstdistanz führt auch zu mehr Selbstironie. Aber es geht in dem Buch nicht wirklich um mich. Ich war ein schreckliches Kind und lange Zeit ein ebenso schrecklicher Erwachsener. Es geht vielmehr darum, wie ich die Welt und die Menschen sehe. Ich bin ein Saper, ein »sowjetisch-aschkenasischer Pessimist«.
Wann haben Ihre Eltern sich damit abgefunden, dass Sie Schriftsteller geworden sind statt Arzt oder Anwalt?
Als ich angefangen habe, damit genug Geld zu verdienen …
Die jüdische Diaspora-Erfahrung zeigt immer wieder, dass die Elterngeneration sich für ihre Kinder aufopfert. Wie war das in Ihrer Familie?
Meine Mutter hat definitiv etwas geopfert. Sie hat ihre sterbende Mutter im damaligen Leningrad zurückgelassen. Aufopferung ist ein klassischer Immigrantenbegriff und ein jüdischer sowieso. Doch ansonsten widerstrebt mir der Gedanke des Aufopferns. Denn er impliziert Schuld, so als würde ich erwarten, dass mein Sohn in meine Fußstapfen tritt. Natürlich tue ich alles für meinen Sohn. Aber ich würde es nicht als Aufopfern bezeichnen. Allerdings – sollte Donald Trump tatsächlich Amerikas nächster Präsident werden, dann wäre es meine Pflicht sicherzustellen, dass wir nach Kanada entkommen. Aber das hat nichts mit Aufopfern zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand.
Ist diese Möglichkeit auch Teil Ihres jüdischen Erbes?
Jeder muss sich bewegen. Ich glaube wirklich, die Diaspora-Idee ist eines der großen Geschenke, die Juden der Welt gemacht haben. Armenier, Libanesen, Chinesen sind unserem Beispiel gefolgt: Wenn Dinge schlecht laufen, besteigt man das nächste Schiff und fängt woanders an. Das ist man seiner Familie schuldig.
Flucht und Emigration sind derzeit die großen Themen. Inwieweit verändern Zuwanderer ein Land?
Jede Gesellschaft, die fortschrittlich sein will, braucht eine große Anzahl Zugewanderter. Andernfalls stagniert sie. Darin bestand wiederum immer Amerikas Größe: im Prinzip als Einwanderungsland. Jedes Land, das vorankommen will, braucht die besten Leute aus aller Welt dazu. Wenn ich jetzt die syrischen Flüchtlinge ankommen sehe, denke ich: Großartig! Integration ist hart, umso mehr in Europa, wo es dominante Kulturen gibt.
Müssen Länder wie Deutschland akzeptieren, dass sie ebenfalls Einwanderungsländer sind?
Ja. Es wird einfach eine Mischung aus alten und neuen Traditionen geben. So bin ich zum Beispiel gespannt auf den großartigen deutsch-syrischen Roman in 20 Jahren. Das Kind etwa, dem von der ungarischen Kamerafrau ein Bein gestellt wurde – mal sehen, welche Geschichte es einmal erzählen wird.
Mit dem Schriftsteller sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.
Gary Shteyngart: »Kleiner Versager«. Rowohlt, Reinbek 2015, 480 S., 22,95 €