Literatur

Lesen in der Krise

Schmökern senkt den Stresslevel um 68 Prozent, mehr als Spazierengehen. Foto: Getty Images

Und? Was ist Ihre Pandemie-Trostlektüre? Hat William Goldmans grandioser Klassiker Die Brautprinzessin Sie wenigstens für gewisse Zeit dieses ungute Gefühl der Ungewissheit vergessen lassen? Oder haben Sie sich lieber gleich wissenschaftlich belegt entspannt mit dem Dauerbestseller The Science of Meditation von Daniel Goleman und Richard Davidson? Aber vielleicht hat Sie eher der Griff zu Altbewährtem beruhigt – Spinoza, Scholem Alejchem, Philip Roth?

Gedichte »Wenn es mir wirklich schlecht geht, lese ich Anna Achmatowas Requiem, eine Gedichtsammlung aus der Zeit von Stalins Großem Terror«, hat der Autor Gary Shteyngart (Willkommen in Lake Success) noch vor der Pandemie dem »Elle«-Magazin anvertraut. »Ich weiß, Sie denken jetzt: Wie kann ein Text, der mit einer Szene beginnt, in der Mütter vor einem Leningrader Gefängnis hoffen, einen Blick auf ihre gefangenen Söhne, Ehemänner und Väter zu erhaschen, irgendjemanden trösten?

Abgesehen von der Schönheit der Gedichte, erinnert es mich daran, dass alles schon einmal da war, dass es wieder passieren wird, und dass die Menschheit gefangen ist in einem endlosen Kreislauf aus Hoffnung und Verzweiflung. Die Gedichte verbinden die einzelnen Tragödien miteinander, und gerade wenn man denkt, dass man völlig allein ist, merkt man, dass wir es nicht sind.«

FRAGEN Vielleicht ein kleines bisschen positiver ausgedrückt: Bücher vermögen uns auf die unterschiedlichste Art und Weise zu trösten. Während die eine noch mal schnell Albert Camus’ Die Pest liest, um vorbereitet zu sein, wühlt der andere, den vollen Eskapismus suchend, im Bücherregal nach Ephraim Kishon. Der muss hier doch irgendwo sein … Das Wichtigste, Schönste und Größte aber ist: Bücher sind immer für uns da! Und sie stellen keine Fragen. Jedenfalls nicht gleich.

Gary Shteyngarts Kollegin Taffy Brodesser-Akner, die uns 2020 mit dem rasenden Bestseller Fleishman steckt in Schwierigkeiten beglückt hat, sagte der »New York Times«, dass sie in der Pandemie Leo Tolstois Anna Karenina und Roths Sabbaths Theater noch einmal gelesen hat, da diese »auf beruhigende Weise daran erinnern, dass sich hinter dieser äußeren Krise immer noch unsere armen, bedürftigen Seelen verbergen, von denen jede ihr ganz eigenes Antibiotikum, Desinfektionsmittel und Klopapier braucht«. Auch um die müssten wir uns kümmern.

FENSTER Und dazu taugen Bücher, diese Spiegel des Lebens und seiner Umstände, eben besonders gut. Mal abgesehen von ihrer ungebrochenen Bedeutung für die geistige und emotionale Bildung eines jeden Menschen: Bücher stützen uns, sie inspirieren, sie geben Hoffnung, sie leiten und, ja, sie lenken ab. »Ein Haus ohne Bücher ist wie ein Zimmer ohne Fenster«, hat Heinrich Mann einst gesagt.

Schmökern senkt den Stresslevel um 68 Prozent, mehr als Spazierengehen.

In den Wochen und Monaten, da wir bleiben müssen, wo wir sind, bieten uns Bücher Reisen zu unbekannten Orten. Sie gewähren uns Ausblick auf mehr als unser eigenes Leben. Lesen öffnet Türen, es verbindet uns. Wenn wir lesen, sind wir nicht allein. Der Text, den wir womöglich sogar schon kennen, gibt uns Halt in einer Zeit, in der sich alles von der einen zur nächsten Minute zu ändern scheint. Und um mal den ganz großen Bogen zu schlagen: Den Juden, diesem Volk des Alefbet, ist das Buch seit der Zerstörung des Zweiten Tempels ein mobiles G’tteshaus geworden, wo wir uns jederzeit treffen können.

Bevor wir jetzt aber Honig von den Buchstaben lecken, als wären wir in der Jeschiwa, hier die harten Fakten über die Gesundheit des Lesens: Eine Studie der britischen University of Sussex hat bereits vor mehr als zehn Jahren bestätigt, dass Schmökern für besonders große Entspannung sorgt: Es senkt den Stresslevel um 68 Prozent! Mehr als Musikhören (61 Prozent), mehr als ein Spaziergang (42 Prozent) und definitiv mehr als ein Computerspiel daddeln (21 Prozent).

Puls Sechs Minuten stilles Lesen, sei es in einer Zeitung oder in einem Buch (Mit Online-Bits und -Bites funktioniert es wegen des Bildschirmlichts leider nicht), reichen aus, um unseren Puls zu beruhigen und Muskeln zu entspannen, sagt der Neuropsychologe und Studienleiter David Lewis.

Und dabei kommt es nicht einmal darauf an, ob es sich um einen besonders blutrünstigen Thriller oder ein besonders harmloses Kinderbuch handelt. Es hilft bereits, dass wir uns auf die Wörter konzentrieren, um angstvolle Gedanken zu verscheuchen. Im Moment des Lesens weitet sich unsere Realität, und sobald wir uns in einer Geschichte verlieren, entspannen wir uns. Wenn es sein muss, eben auch mit Håkan Nesser.

mITgefühl Und das ist noch lange nicht alles! Buchlektüre lässt uns besser schlafen, verbessert das Erinnerungsvermögen, kann Depressionen lindern, hält das Gehirn fit und kann so Demenz und Alzheimer entgegenwirken. Und macht uns sogar zu besseren Menschen! Indem wir uns in andere Schicksale und Situationen hineinversetzen, lernen wir Mitgefühl. Das ist die Eigenschaft, die dieser Tage leider zunehmend unterschätzt wird.

Aber, und hier kommt eine gute Nachricht zur Pandemie, es besteht Hoffnung für die Empathie. Seit dem ersten Lockdown lesen die Menschen wieder mehr.

Laut einer Umfrage des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels haben die Zehn- bis 19-Jährigen fast ein Drittel mehr Zeit mit Büchern verbracht als noch vor Covid-19 und Homeschooling. Bei allen anderen Altersgruppen sind es im Durchschnitt immerhin 20 Prozent mehr. Was meinen Sie? Da ist doch noch Luft nach oben! Auf den folgenden Seiten finden Sie ganz sicher Inspiration!

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