Zwei Männer sitzen im 34. Stockwerk eines Hotelhochhauses in Warschau und warten auf ein Totengebet. Samuel Pisar und John Axelrod werden am Abend Leonard Bernsteins Symphonie No. 3 mit dem Titel Kaddish aufführen. Pisar wird der Sprecher sein, John Axelrod die Warschauer Sinfoniker dirigieren. Die beiden sind ein ungleiches Paar. Pisar, der Ältere, groß gewachsen, mit dunklem, noch vollem Haar und wachem Blick, seine 81 Jahre sieht man ihm nicht an. Axelrod ist knapp über 40, blond gelockt und ein Star der Musikwelt von Pop über Filmmusik bis Klassik. Was die beiden gemeinsam haben, ist ihre tiefe Verbundenheit mit Leonard Bernstein, auch zwanzig Jahre nach dessen Tod am 14. Oktober 1990. John Axelrod war mit damals 16 Jahren Schüler des amerikanischen Komponisten und Dirigenten. Pisar, der Schoa-Überlebende, sein Berater und tiefer Bewunderer.
weltstar »Es war am 20. Januar 1961«, weiß Pisar noch genau. Bei der Inaugurationsfeier von John F. Kennedy dirigierte Bernstein eine eigens komponierte Fanfare. Pisar gehörte zum Beraterstab des frisch vereidigten Präsidenten und war tief beeindruckt von Bernsteins Ausstrahlung. Der war ein Weltstar seit er 1943, mit gerade mal 25 Jahren, bei einem Konzert der New Yorker Philharmoniker in der New Yorker Carnegie Hall in letzter Sekunde für den erkrankten Bruno Walter als Dirigent eingesprungen war. Das Konzert wurde landesweit im Radio übertragen und machte den jungen Mann auf einen Schlag berühmt. Bald luden ihn Orchester in der ganzen Welt als Gastdirigenten ein. Gleich nach dem Krieg, 1946, dirigierte der 28-Jährige in London und Prag, 1947 trat er zum ersten Mal in Tel Aviv auf, 1953 war er der erste Amerikaner, der je in der Mailänder Scala dirigierte. 1958 kehrte Bernstein zu den New Yorker Philharmonikern zurück, blieb elf Jahre lang ihr Chefdirigent.
Auch als Komponist arbeitete Bernstein schon seit den 40er-Jahren. Fast jeder kennt sein 1957 uraufgeführtes Musical West Side Story. Weniger bekannt sind andere Werke, wie die Operette Candide oder die Oper A Quiet Place, deren Uraufführung er 1983 an der Houston Grand Opera selbst leitete. Bei den Proben dazu lernte John Axelrod den Maestro kennen. Der Highschoolschüler durfte ihm eine eigene Komposition vorspielen – und wurde eingeladen, täglich zum Unterricht zu Bernstein zu kommen. Die vier Monate, erinnert sich Axelrod, kamen ihm vor wie vier Jahre Universitätsstudium. »We play people«, habe Bernstein immer gesagt, »unser Instrument ist aus Fleisch und Blut.« An seine liebevolle, tiefe Menschlichkeit erinnert sich Axelrod besonders. Es sei unglaublich gewesen, wie der Maestro damit einfach jedes Orchester zu seinem ganz eigenen Klang geführt habe.
lehrer Neben seiner Arbeit als Dirigent und Komponist war Bernstein stets auch Lehrer. Seit 1951 leitete er die Orchester- und Dirigierklasse des Tanglewood Festivals, der Sommerakademie der Bostoner Symphoniker. Sein ganzes Leben lang spielte und unterrichtete er jeden Sommer dort. 1958 etablierte er die Young People’s Concerts der New Yorker Philharmoniker. Dort widmete er sich Fragen wie »Was ist Mode?« oder »Was bedeutet Musik?«. Die Konzerte wurden bald im Fernsehen übertragen. Ausschnitte daraus sind heute auf YouTube zu finden und haben nichts von ihrem Pep verloren.
Dass er einen Draht zu jungen Menschen fand, lag auch daran, dass Bernstein in allen Musikstilen zu Hause war, ob Klassik, Jazz oder Pop. »Es gibt gute Musik, und es gibt schlechte Musik. Warum muss man noch etwas anderes unterscheiden?«, war sein Credo. Er gab seiner Generation musikalisch eine Stimme, der Bernstein-Klang ist bis heute unverwechselbar, ob für kleines Ensemble oder Symphonieorchester, für Film oder Theater oder den Broadway geschrieben.
Kaddish Leonard Bernstein war kein religiöser Mensch. Seines Judentums aber war er sich stets bewusst. Zu seinen Kompositionen gehören auch drei Symphonien mit jüdischer Thematik: Jeremiah, The Age of Anxiety und Kaddish, das 1963 in Jerusalem uraufgeführt wurde. Den Sprechertext dazu hatte der Musiker selbst verfasst, doch sei er ihm selbst immer zu schwach vorgekommen, sagt Samuel Pisar. Zeit seines Lebens sei Bernstein mit dem Text unzufrieden gwesen. Der Freund habe ihn deshalb gebeten, eine Totenklage vor dem Hintergrund seiner Erlebnisse im KZ Auschwitz zu schreiben. Pisars Memoiren Von Blut und Hoffnung hatten Bernstein beeindruckt. Das war 1989. »Zu diesem Zeitpunkt war Leonard bereits sehr krank und wusste, dass er sterben würde.« Es dauerte noch weitere zehn Jahre, ehe Samuel Pisar dann seinen »Dialog mit Gott« schrieb und mithilfe von John Axelrod in die Symphonie einfügte. 2003 war die Uraufführung in Washington, es folgten New York, Jerusalem, Berlin und nun Warschau. Leonard Bernstein hatte Kaddish im Gedenken an John F. Kennedy geschrieben. Seine Freunde spielen die Dritte Symphonie nun im Gedenken an ihn. »Denn Lenny schaut uns von da oben zu.«