1938 wurde der Vater von W. Michael Blumenthal, der damals ein jüdischer Textilhändler in Berlin war, im KZ Buchenwald inhaftiert. Nach seiner Freilassung floh die ganze Familie quasi in letzter Minute nach Shanghai. Rund 18.000 Jüdinnen und Juden fanden Ende der 30er-Jahre in der chinesischen Metropole Schutz, weil viele andere Länder ihre Grenzen für sie bereits dichtgemacht hatten – ihnen ist das Oratorium Emigrée von Hollywood-Komponist Aaron Zigman gewidmet, das das Deutsche Symphonie-Orchester in Berlin am 3. November erstmals in Europa aufführt. Es erzählt eine Liebesgeschichte aus dem jüdischen Ghetto von Shanghai. Nach dem Krieg emigrierte Blumenthal, der am 3. Januar 1926 in Oranienburg zur Welt kam, in die Vereinigten Staaten, wurde wirtschaftspolitischer Berater von John F. Kennedy sowie Finanzminister im Kabinett von US-Präsident Jimmy Carter. Später sollte er der erste Direktor des Jüdischen Museums in Berlin werden.
Herr Blumenthal, erinnern Sie sich noch an Ihre Flucht aus Deutschland nach Shanghai?
Meine aktive Erinnerung setzt bereits sogar vorher ein, und zwar in der Zeit der »Kristallnacht«. Ich sehe noch immer sehr genau unser zertrümmertes Geschäft am Olivaer Platz und die brennende Synagoge in der Fasanenstraße. Ich bin damals dahin gerannt und habe mir das angeschaut. Natürlich erinnere ich mich auch an unsere Überfahrt nach Shanghai.
All das muss für Ihre Eltern sehr belastend gewesen sein – wie haben Sie die Situation in Ihrer Familie damals wahrgenommen?
Wir haben das emotionale Ausmaß als Kinder überhaupt nicht erkannt. Wir hatten ein Urvertrauen in unsere Eltern, darin, dass sie das Richtige tun würden. Die Vorstellung einer Bootsfahrt um die halbe Welt habe ich eher als Abenteuer verstanden. Für meine Eltern war das natürlich ganz anders. Sie waren spätestens seit 1938 vollkommen traumatisiert. Mein Vater hatte selbst nach der Machtergreifung Hitlers nie an Auswanderung gedacht. Er verstand sich als Deutscher, auch, weil er als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient hatte. Dass er 1938 in Buchenwald inhaftiert wurde, hat ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er in einem Steinbruch körperlich arbeiten. Plötzlich hatte er auch alles verloren. Diese neue Situation lähmte ihn. Damals waren es ja oft die Frauen, die am Ende die Initiative übernommen hatten. Und so war es auch bei uns: Ohne meine Mutter wäre meine Familie aufgeschmissen gewesen.
Ihre Eltern entschlossen sich fast schon zu spät zur Flucht. Warum dann Shanghai?
Man durfte schon nichts mehr aus Deutschland mitnehmen, und es gab kein Land, das uns Juden aufnehmen wollte. Es war nur noch von Shanghai die Rede – vom letzten Zufluchtsort. Es kursierten damals Horrorgeschichten: schmutzige Straßen, überall Gestank und eine Stadt ohne Gesetze. Als dann ein letzter Versuch meiner Eltern scheiterte, nach Brasilien zu gehen, war China für uns die einzige Chance.
Das eigene Land will einen ermorden, und kein anderes Land der Welt ist bereit, einen aufzunehmen …
Das war tatsächlich traumatisierend. Ich erinnere mich, dass unser Schiff auf dem Weg von Neapel nach Shanghai verschiedene Häfen ansteuerte: Eden, Suez, Bombay, Colombo, Hongkong. Überall war die Flagge des Commonwealth gehisst, aber mit unseren deutschen Pässen, in denen ein großes »J« gedruckt war, durften wir nicht einmal an Land gehen. Zuvor hatte Roosevelt auf der Konferenz von Evian versucht, die Juden auf verschiedene Länder zu verteilen. Tatsächlich zeigten manche Länder Mitleid, aber alle hatten Ausreden, warum sie uns nicht aufnehmen konnten. In der Schule kursierte der Witz, dass die Konferenz nicht gut gehen konnte, schließlich liest sich Evian rückwärts »Naive!«. Und das waren wir damals: naiv!
Shanghai war kein Paradies: Nach der japanischen Eroberung wurden Juden auch dort ghettoisiert.
Die Japaner hatten immerhin kein Interesse an unserem Tod. Und so haben die meisten von uns überlebt. Ich wundere mich heute manchmal, wie groß das Interesse an unserer relativ kleinen Gruppe ist. Die Geschichte der Shanghai-Juden ist ja letztlich ziemlich banal. Die Japaner haben uns für zwei Jahre eingesperrt – danach sind wir in die ganze Welt weitergezogen. Klar, die Verhältnisse waren nicht leicht, einige haben sich das Leben genommen. Dass man heute Oratorien wie »Emigrée« über diese Sache komponiert, ist schon verrückt.
Kann Kunst überhaupt Erinnerung schaffen?
Ich glaube schon, dass Musik einen emotionalen Einfluss haben kann. Aber machen wir uns nichts vor: Die Musik ist ganz hübsch, aber der Plot, in dem ein Jude und eine Chinesin heiraten, hat letztlich wenig mit der Realität zu tun. Aber vielleicht inspiriert Kunst uns am Ende, über gewisse Mechanismen des Menschseins zu reflektieren. Als ich das Jüdische Museum konzipiert habe, war es mir ebenfalls wichtig, dass unsere Besucher verstehen, wie einflussreich das jüdische Leben für die deutsche Kultur war. Auf jeden Fall kann man sagen, dass wir inzwischen aus der historischen Situation gelernt haben.
Ist das so? Die aktuellen Wahlkämpfe von Donald Trump oder in Deutschland zeigen, dass Flüchtlinge auch heute wieder zum Spielball von Populisten werden.
Das stimmt schon, aber anders als damals gibt es sowohl in den USA als auch in Deutschland inzwischen Gesetze, nach denen Flüchtlinge, die vom Tode bedroht sind, hereingelassen werden. Es steht auf einem anderen Blatt, dass heute in vielen Ländern ebenfalls eine große Angst herrscht, zu viele Ausländer kämen ins Land.
Aber gerade hier wird von populistischen Politikern nur selten differenziert.
Heute sind wir mit einer globalen Flüchtlingsbewegung konfrontiert. Das ist nicht vergleichbar mit den 30er-Jahren. Natürlich habe ich allein aufgrund meiner eigenen Geschichte zunächst einmal Verständnis für jeden Menschen auf der Flucht. Aber ich verstehe auch die Angst, dass zu viele Menschen, die gar keinen Anspruch auf Asyl haben, in unsere Länder drängen. Es geht hier um die Frage des politischen Managements, und ich glaube, dass es eine Herausforderung für Kamala Harris und alle demokratischen Politikerinnen und Politiker wird, ohne Stigmatisierungen und ohne Ressentiments Lösungen zu finden, um die Zuwanderung fair und menschlich zu regulieren. Das Problem ist, dass derzeit die allgemeine Angst vor Überfremdung von Demagogen wie Donald Trump ausgenutzt wird. Das ist skrupellos, aber es scheint zu funktionieren. Umso wichtiger ist es, realpolitisch klug zu handeln.
Sie waren ja selbst Politiker – was würden Sie den Politikern von heute raten?
Leider gibt es keine magische Lösung. Wir befinden uns in einer historischen Phase. Das Problem der Migration lässt sich derzeit nur temporär managen. Aber dafür muss man zunächst klar zwischen legaler und illegaler Einwanderung trennen. Für Kamala Harris wird es eine der Hauptaufgaben sein, einen Mittelweg zu finden und ihn dann auch im Kongress durchzubekommen. Ich beneide sie nicht darum.
Mit Israel haben Juden einen Zufluchtsort gefunden. Doch dieser steht gerade unter Beschuss. Wie blicken Sie auf die aktuelle Situation in Nahost?
Ich hatte in der Regierung von John F. Kennedy viel mit Israel zu tun und kenne Politiker wie Benjamin Netanjahu persönlich. Ich beobachte, wie die USA, besonders Präsident Joe Biden, versuchen, Druck auf den Nahen Osten auszuüben – aber ich sehe auch, dass das derzeit misslingt. Zwei Völker beanspruchen einen kleinen Flecken Erde. Keines der beiden ist zu Kompromissen bereit. Ich bin fest überzeugt, dass dieser Konflikt auch in den nächsten zehn Jahren nicht gelöst wird. Man kann die Situation nur temporär managen. Aber derzeit wird sie so schlecht gemanagt, dass wir am Rande des Schlimmsten stehen, was passieren kann. Ich bin Zionist in dem Sinne, dass es ein Existenzrecht Israels geben muss, aber ich verstehe auch, dass es eine andere Seite gibt: 1200 Menschen wurden brutal ermordet, und es ist verständlich, dass auf dieses Massaker eine israelische Reaktion folgte. Doch nun sind auch 40.000 teils unschuldige Menschen ums Leben gekommen. Ich stehe hilflos vor dieser Situation und habe keine Idee, wie es weitergehen soll.
Sie sagten, man habe aus der Vergangenheit gelernt. Mir kommen Zweifel, ob das für die junge Generation noch zutrifft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir als Welt sehr schnell sehr viel gelernt. Wir haben die UNO gegründet, haben mit dem Marshall-Plan verstanden, dass man Europa aufbauen und als Partner einbinden kann. Ich habe persönlich an dieser europäischen Stabilität in meiner Zeit unter den US-Präsidenten Kennedy und Johnson gearbeitet. Und wir waren erfolgreich. Von 1945 bis in die 90er-Jahre gab es eine weitgehend friedliche Welt. Die technologische Revolution hat vollkommen neue Paradigmen aufgestellt. Jetzt wird sich zeigen, ob das, was wir gelernt und aufgebaut haben, auch in der kommenden Generation Bestand hat. Ich muss ehrlich sagen, dass auch ich mir da leider nicht mehr sicher bin. Wenn ich sehe, wie die Hälfte meiner Mitbürger über Trump und die Demokratie denkt, wie Protektionismus und Nationalismus das Fremde ausgrenzen, dann zweifle ich, ob wir wirklich genug aus der Geschichte gelernt haben.
… ja, und wer was genau gelernt hat.
Dass wir in den USA, aber auch hier in Deutschland, gelernt haben – das haben wir alle erlebt, und zwar in einer sehr langen Zeit des Friedens. Aber nun sehe ich auch in Deutschland Bewegungen, die von machtbesessenen und geschichtsvergessenen Demagogen angeführt werden. Ich beobachte Ähnliches in Frankreich, in Italien, in Ungarn und Österreich. Sind wir dabei, die Geschichte zu vergessen? Umso wichtiger wäre es, sie immer wieder zu erzählen und daran zu erinnern.
Könnte ein Wahlsieg Trumps die bestehende Weltordnung endgültig aushebeln?
Dass ein Sieg von Trump fatal sein dürfte, ist klar. Wie fatal, das kann derzeit wohl niemand vorhersagen. Immerhin haben wir in den USA noch Gesetze und eine unabhängige Justiz. Es wird unmöglich für Trump sein, Gesetze – wie das einst Hitler in den ersten Tagen seiner Regierungszeit getan hat – einfach aufzuheben. Was das betrifft, sind wir in einer etwas besseren Situation. Aber daran, dass sein Sieg fatal wäre – daran besteht kein Zweifel.
Mit W. Michael Blumenthal sprach Axel Brüggemann.