Susan Sontag

Lehrjahre einer Intellektuellen

Susan Sontag (1933–2004) war nicht nur Essayistin, Romanautorin, Dramatikerin, Filmemacherin und Theaterregisseurin. Sie war vor allem die amerikanische Paradeintellektuelle an sich – eine Vordenkerin und geistige Schrittmacherin ihrer Epoche, die Bannerträgerin einer unbedingten ästhetischen Zeitgenossenschaft und radikale Parteigängerin der Künste der Gegenwart, des Kinos, der Fotografie, der Popkultur, der zeitgenössischen Literatur und Philosophie. Ihre Essays brachten die Gegenwartskultur in all ihrer Vielfalt auf den Begriff.

Ihr Privatleben hat Susan Sontag stets strikt vor der Öffentlichkeit abgeschirmt – mit Ausnahme des Essays Krankheit als Metapher, der ihre Krebserkrankung thematisierte. Doch nachdem die Fotografin Annie Leibovitz 2006 in einem großen Bildband (A Photographer’s Life, erschienen bei Schirmer/Mosel) ihre lesbische Beziehung zu der Autorin publik gemacht hatte, gewährt nun auch Sontags Sohn David Rieff Einblicke in das intime Leben seiner Mutter. 2008 veröffentlichte er seine Erinnerungen an ihren Leukämietod (deutsch bei Hanser unter dem Titel Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag). Nun hat er sich entschlossen, die privaten Tagebücher Sontags herauszugeben – in drei Bänden, deren erster unter dem Titel Wiedergeboren im März auf Deutsch erschienen ist.

frühreif Wiedergeboren umfasst die Tage- und Notizbücher der jungen Susan Sontag, die sechzehn Jahre von ihrem 14. bis zu ihrem 30. Lebensjahr. Anfangs ist sie eine frühreife, unendlich altkluge Schülerin und hochbegabte Studentin im kalifornischen Berkeley und in Chicago. Mit vierzehn notiert sie: »Der Zauberberg ist der beste Roman, den ich je gelesen habe.« Mit sechzehn interviewt sie Thomas Mann in Pacific Palisades über seinen Roman und resümiert danach herablassend: »Die Kommentare des Autors verraten das Buch durch ihre Banalität.« Mit siebzehn heiratet Susan Sontag ihren Dozenten in Chicago, den Soziologen Philip Rieff, und geht mit ihm nach Boston; mit achtzehn wird sie Mutter ihres Sohnes David. Es folgen sechs zunehmend unglücklichere Ehejahre, bis Sontag 24-jährig ihre Familie verlässt und mit einem Stipendium nach Oxford und Paris geht. Nach der Scheidung lässt sie sich mit ihrem Sohn in New York nieder, als Dozentin und Autorin. Der erste Band der Tagebücher endet 1963, mit dem Erscheinen ihres ersten Romans Der Wohltäter, umfasst also ihre prägenden Studien- und Ehejahre bis knapp vor ihrem Durchbruch zum Ruhm, ehe sie die Susan Sontag wurde, die wir kennen. Ein Jahr später wurde sie mit ihrem stilbildenden Essay Notes on Camp schlagartig berühmt.

selbstzweifel »Die Tagebücher als Selbstentblößung zu bezeichnen, wäre eine drastische Untertreibung«, schreibt David Rieff im Vorwort. Zu Recht. Diese Journale sind geeignet, das öffentliche Bild der glamourösen, souveränen Starintellektuellen zu verändern. Sie zeigen eine wenig selbstsichere und sozial ängstliche junge Frau, zerrissen zwischen kulturellem und erotischem Heißhunger und auf der Suche nach ihrer Berufung im Leben. Susan Sontags privates Selbstbild widerspricht diametral ihrem späteren imperialen Image als New Yorker Stilikone. Un- entwegt hadert sie mit sich selbst, ermahnt sich, öfter zu baden, hält sich für schlapp und schwach, für träge und ungelenk, ohne Anmut und soziales Geschick.

Anfangs tritt sie uns als gehemmte Jugendliche voller Selbstzweifel entgegen, aber auch – getragen von der Gewissheit ihrer intellektuellen Überlegenheit – voll hochmütiger Ablehnung ihres Herkunftsmilieus. Sie leidet unter der Spießigkeit und dem kulturellen Desinteresse ihrer Familie, namentlich ihres Stiefvaters Nathan Sontag (»Den Abend mit Nat vergeudet. Bin mit ihm in einen Technicolor-Reißer gegangen und habe so getan, als hätte ich Spaß daran«). Um keinen Preis möchte sie ein derart konventionelles, enges und langweiliges Leben führen wie ihre Eltern: »Zu Hause finden ständig diese hohlen, ritualisierten Freundlichkeitsbekundungen statt – was für ein mieses, trostloses, elendes Dasein.« Zugleich räumt sie ein, die Beziehung zu ihrer Mutter sei »die einzige emotionale Bindung, die ich habe«. Sie ist stolz auf »meinen Atheismus« und lässt ihre Mutter wissen, »dass ich lieber keine Jüdin wäre«. Doch gleichzeitig vertieft sie sich in Gershom Scholems Studien zum jüdischen Gnostizismus.

Frauenliebe Das Hauptgeschäft der Tagebücher ist die Selbsterschaffung und Selbstoptimierung der Intellektuellen und Kulturkritikerin Sontag durch ein rigoroses Bildungsprogramm, das sie sich selbst auferlegt. Seitenlang sind die Listen der Bücher, die sie unbedingt lesen muss oder gelesen hat; dazu kommen endlose Film-, Theater- und Musiklisten. Eindrucksvoll, mit welcher Entschlossenheit und nie erlahmender Lebens- und Wissensgier Susan Sontag sich zu der Gestalt bildet, die sie werden wollte. Mit 24 Jahren notiert sie: »Im Tagebuch erschaffe ich mich selbst.«

Im Widerspruch zu diesem stolzen Bekenntnis schilt sie sich immer wieder dafür, um die Zuwendung anderer Menschen zu buhlen und bei stärkeren Charakteren um Wohlwollen zu betteln, namentlich bei ihren Liebhaberinnen, meist sehr dominanten Frauen, die ihre Liebe nicht erwidern. Sontags Leben als Lesbierin nimmt im Tagebuch breiten Raum ein. Mit sechzehn wurde sie in die Lesbenzirkel von San Francisco eingeführt. Dann folgte das überstürzte Experiment einer heterosexuellen Ehe, offenbar gegen ihre Natur: »Ich heirate Philip im vollen und beklemmenden Bewusstsein meines Drangs zur Selbstzerstörung«, heißt es ominös wenige Tage nach der Hochzeit. Bald sieht sie den einzigen Zweck der Ehe nur noch im Persönlichkeitsverlust und in der Abstumpfung der Gefühle. Ab Paris spielen ihre turbulenten Affären und meist unglücklichen und einseitigen Beziehungen zu Frauen eine zentrale Rolle in den Journalen. Unersättlichkeit ist das durchgängige Merkmal dieser Notate: rabiater Bildungs- und Kunsteifer einerseits, erotischer Heißhunger andererseits. Immer wieder thematisiert Sontag den Widerstreit zwischen ihrer geistigen Existenz und ihrer jubilierend ausgelebten Sexualität. Der Ausgleich gelingt nicht; wiederholt beklagt sie die »qualvolle Dichotomie von Körper und Geist«.

Voyeurismus Susan Sontags Tagebücher sind meist hastig hingeworfene Stichworte, kurze Notate, Vermerke zur Lektüre, zu Theater- und Kinobesuchen. Nur selten verdichten sie sich zu erzählten Episoden. Ob die Verfasserin die Veröffentlichung dieser sehr intimen Journale gewünscht hätte, muss bezweifelt werden. Sie sind jedenfalls nicht im Hinblick auf eine spätere Publikation geschrieben. Im Vorwort, dem man Zweifel und Schuldgefühle anmerkt, begründet David Rieff seine Entscheidung, die fast hundert Notizbücher, die seine Mutter in ihrem Kleider- schrank verborgen angesammelt hatte, öffentlich zu machen: Susan Sontag habe keine Anweisungen hinsichtlich ihrer Journale hinterlassen; da sie alle ihre Schriften, einschließlich der Tagebücher, an die University of California verkauft habe, wollte der Sohn die Aufzeichnungen lieber selbst edieren, ehe jemand anders, ein Fremder es täte. So seine etwas klägliche Rechtfertigung.

Dem Leser bleibt die unbehagliche Rolle eines indiskreten Voyeurs, der zudem über weite Strecken im Unklaren darüber gelassen wird, was er hier liest. David Rieff macht die Streichungen und Tilgungen, die er als Herausgeber vorgenommen hat, im Detail nicht kenntlich. Es klaffen riesige, oft monate-, sogar jahrelange Lücken zwischen den Eintragungen. Hat Sontag da nichts notiert oder hat ihr Sohn Passagen gestrichen? David Rieff gibt keine Rechenschaft über seine Vorgehensweise, das ist ärgerlich. Manche erwähnte Personen erläutert er knapp, viele nicht. Ein biografischer Abriss, der es ermöglichen würde, sich in diesen sechzehn Lebensjahren Sontags zu orientieren, fehlt. So hinterlässt Wiedergeboren nicht nur viele Fragen, sondern auch einen unguten Nachgeschmack.

Susan Sontag: Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963. Übersetzt von Kathrin Razum.
Hanser, München 2010, 384 S., 24,90 €

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