Deutschland

Leere Rituale

Michael Wolffsohn ist nicht als Heißsporn bekannt. Vielmehr gilt der renommierte Historiker und Autor als kühler Analytiker, der emotionale Exkurse vermeidet und die Fakten sprechen lässt. Doch der Zivilisationsbruch vom 7. Oktober 2023 hat auch den 1947 in Tel Aviv geborenen Wolffsohn zutiefst erschüttert.

Und genau diese Erschütterung hat er in Worte umgesetzt. »Nie wieder? Schon wieder!« lautet der Titel des Resultats. Und es liest sich wie ein flammender Appell an Staat und Individuum, bei dem Thema Antisemitismus in all seinen Ausprägungen endlich zur Räson zu kommen.

Das Buch ist eine Abrechnung mit den Ikonen deutscher Politik und deren Positionen zu Israel.

So sollte Wolffsohn zum 85. Jahrestag der Novemberpogrome, diesem wohl deutschesten aller Gedenktage, an dem des staatlich gelenkten Judenhasses der Nationalsozialisten, der Ausrufung der Republik 1918 und des Mauerfalls 1989 gedacht wird, vor dem Berliner Abgeordnetenhaus sprechen. Doch der »Schwarze Schabbat« veränderte alles, auch das Manuskript der Rede, die er am 16. November hielt. Sie wurde zu einem Aufruf an die Gesellschaft, endlich zu handeln, statt permanent zu schwätzen und zu beschwichtigen.

Ein schmales Bändchen voller Sprengkraft

Aus der nie gehaltenen sowie der neueren Rede hat Wolffsohn ein schmales Bändchen voller Sprengkraft gemacht. In vier Teilen, darunter einer sehr persönlichen Vorrede, wird mit den lieb gewordenen Verdrängungs- und Whitewashing-Ritualen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft ebenso schonungslos abgerechnet wie mit den Ikonen deutscher Politik und deren Positionen zu Israelpositionen. Schon in der Einleitung lässt der Autor die eine oder andere gesellschaftspolitische Bombe platzen.

»Schon wieder? Das ist richtig und falsch. Falsch vor allem deshalb, weil der den Juden- und Israeltod brüllend fordernde Pöbel nicht – wieder wie zu ›Führers‹ Zeiten – aus deutschen Rechtsextremisten, sondern mehrheitlich – fast einheitlich – aus muslimischen Neudeutschen, also Neubürgern und -einwohnern besteht«, bringt er es auf den Punkt.

Mit lieb gewordenen Verdrängungs- und Whitewashing-Ritualen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft rechnet der Autor ab.

Legitimatoren der muslimischen »Tod Israel!«-Denker und -Brüller seien autochthone Linksextremisten. Nicht brüllend, »aber ›mit dem Herzen‹ und Argumenten dabei sind nicht selten auch Linksliberale«, so der Historiker weiter. »Anders als ihre Vorfahren schreien sie nie wieder ›Juden raus!‹. Sie lassen rufen.« Das ist auf jeden Fall starker Tobak. Und so mancher wird Wolffsohn vielleicht vorwerfen, hier den Pfad der kühlen Analyse verlassen zu haben und zum gesellschaftspolitischen Desperado geworden zu sein. Doch das ist ein gefährlicher Trugschluss. Aber wenn die Mehrheitsgesellschaft es schon nicht schafft, deutliche Worte zu finden, denen auch Taten folgen, wer dann?

Im Englischen gibt es für das, was auf Deutsch als »Streitschrift« oder »Abrechnung« bezeichnet wird, den Begriff »Rant«. Es ist eine schärfere und vielleicht auch die treffendere Bezeichnung für das, was Michael Wolffsohn hier zu Papier gebracht hat.

Bei Wolffsohn ist das alles stark biografisch gefärbt

Denn in einem »Rant« schwingen neben intellektueller Rhetorik immer auch Wut, Verzweiflung und Emotionen mit. Bei Wolffsohn ist das alles stark biografisch gefärbt. So spricht er beispielsweise darüber, wie seine Familie nach der Schoa nach Deutschland zurückgekehrt war und in der neuen Bundesrepublik bei Fragen der Restitution bei Gerichten und in der Verwaltung immer wieder mit alten Nazis konfrontiert war.

Sein Vater Max Wolffsohn wurde wegen Rufschädigung im Jahr 1962 sogar zu einer Strafe in Höhe von 30.000 Mark sowie einer Ehrenerklärung gegenüber jener Bank verurteilt, die bei der Enteignung des Familienvermögens während der Nazizeit besonders aktiv gewesen war.

Mit solchen Kontinuitäten des »Dritten Reiches« weit hinein in die bundesrepublikanische Wirklichkeit befasst sich Wolffsohns nie gehaltene Rede. Diejenige, die er nach dem 7. Oktober schrieb und dann auch halten sollte, ist nach eigenen Angaben »rabenschwarz« – wenngleich er davon zu berichten weiß, dass ihn persönlich nach dem 7. Oktober »herzerwärmende Signale aufrichtiger Verbundenheit« erreicht hätten.

Wolffsohn stellt zwischen dem aktuellen Judenhass an Universitäten weltweit sowie der Bereitschaft von Deutschlands damaligen akademischen Eliten, die sich »schnellstens mit dem NS-Staat identifizierten und solidarisierten«, eine Verbindung her. »Bildung schützt weder vor Torheit noch Antisemitismus oder Unmenschlichkeit«, lautet daher sein Fazit.

Nur auf Bildung als Prävention zu setzen und dabei die Tatsache zu ignorieren, dass Antisemitismus viele Ausdrucksformen kennt, hält Wolffsohn für ein »Staatsversagen auf der ganzen Linie«. Denn bis zum 7. Oktober seien weder der linke Israel- noch der islamische Judenhass ausreichend »benannt und bekämpft« worden, sondern fast ausschließlich der Antisemitismus von Rechtsaußen. Das hält er für ein grobes Versäumnis.

Muslimen in Deutschland muss die nazistische Historie ihrer Helden vermittelt werden.

Dass eine Israelpolitik schon im Jahr 1970 laut Bundeskanzler Willy Brandt »komplexfrei« zu führen sei, eine unheilige Tradition begründete, deren Echo jetzt in den vielen »Ja, aber«-Rufen gegen Israels Kriegsführung in Gaza widerhallt, davon weiß der Historiker auch zu berichten.

Und Muslimen in Deutschland müsse, so Wolffsohn, endlich die nazistische Historie ihrer Helden im britischen Mandatsgebiet vermittelt werden, damit sie nicht länger behaupten könnten, sie hätten mit Deutschlands Vergangenheit doch gar nichts zu tun. Viel Hoffnung vermittelt die Lektüre dieses Büchleins nicht wirklich. Aber vielleicht rüttelt dieser mit viel Leidenschaft und Herzblut verfasste Appell den einen oder anderen ja wach. »Schaut auf unsere Wirklichkeit«, ruft Wolffsohn seinen »deutschen Landsleuten« zu und stellt fest: »Judenpolitisch ist sie ein Albtraum.« Aber: »Selbsterkenntnis ist der Anfang jeder Besserung.«

Michael Wolffsohn: »Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus«. Herder, Freiburg 2024, 96 S., 12 €

TV-Spielfilm

ARD dreht prominent besetztes Dokudrama zu Nürnberger Prozessen

Nazi-Kriegsverbrecher und Holocaust-Überlebende in einem weltbewegenden Prozess: Zum 80. Jahrestag dreht die ARD ein Drama über die Nürnberger Prozesse - aus der Sicht zweier junger Überlebender

 31.03.2025

Porträt

»Das war spitze!«

Hans Rosenthal hat in einem Versteck in Berlin den Holocaust überlebt. Später war er einer der wichtigsten Entertainer Westdeutschlands. Zum 100. Geburtstag zeigt ein ZDF-Spielfilm seine beiden Leben

von Christof Bock  31.03.2025

Interview

Günther Jauch: »Hans Rosenthal war ein Idol meiner Kindheit«

Der TV-Moderator über den legendären jüdischen Showmaster und seinen eigenen Auftritt bei »Dalli Dalli« vor 42 Jahren

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Jubiläum

Immer auf dem Sprung

Der Mann flitzte förmlich zu schmissigen Big-Band-Klängen auf die Bühne. »Tempo ist unsere Devise«, so Hans Rosenthal bei der Premiere von »Dalli Dalli«. Das TV-Ratespiel bleibt nicht sein einziges Vermächtnis

von Joachim Heinz  31.03.2025

Todestag

Wenn Worte überleben - Vor 80 Jahren starb Anne Frank

Gesicht der Schoa, berühmteste Tagebuch-Schreiberin der Welt und zugleich eine Teenagerin mit alterstypischen Sorgen: Die Geschichte der Anne Frank geht noch heute Menschen weltweit unter die Haut

von Michael Grau, Michaela Hütig  31.03.2025

München

Schau zu »Holocaust im familiären Gedächtnis« im Jüdischen Museum

Die Zeitzeugen des Holocaust sterben nach und nach weg. Auch für deren Angehörige heißt das, sich zu fragen, wie man mit der eigenen Familiengeschichte weiter umgehen soll. Eine Münchner Schau nimmt sich des Themas an

 31.03.2025

Las Vegas

Kiss tritt ungeschminkt auf

Schon 2023 schwor Gene Simmons, dass die Band diesen Schritt wagen werde. In Las Vegas will er Wort halten

 31.03.2025

Gert Rosenthal

»Mein Vater war sehr bodenständig«

Am 2. April wäre Hans Rosenthal 100 Jahre alt geworden. Zum Jubiläum würdigt ihn das ZDF. Ein Gespräch mit seinem Sohn Gert über öffentliche und private Seiten des Quizmasters

von Katrin Richter  31.03.2025 Aktualisiert

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  31.03.2025