An den Moment, als er das erste Mal in seinem Leben Musik von Louis Lewandowski hörte, kann sich Jascha Nemtsov noch gut erinnern. Es war das Gebet »Ma towu« für gemischten Chor. »Das Werk war packend und hat den Hörer mitgenommen. Obwohl für die Synagoge geschrieben, ist es stark in der romantischen Tradition verwurzelt«, sagt der Pianist, Musikwissenschaftler und Spezialist für jüdische Musik. Obwohl er noch weiß, welcher Chorsatz erklang, fällt ihm der Anlass nicht mehr ein. »Wahrscheinlich bei einer Feierlichkeit des Abraham Geiger Kollegs«, sagt Nemtsov lächelnd. In Russland, wo Nemtsov geboren wurde, war Lewandowski früher kein Begriff.
Das hat sich schon lange geändert – auch dort gibt es nun Chöre, die seine Musik singen. Mittlerweile lebt Nemtsov schon fast zwei Jahrzehnte in Berlin – und hat mehrere Artikel über den Berliner Chordirigenten, Komponisten und Reformer geschrieben.
FANGEMEINDE »Lewandowskis großer Fangemeinde gehöre ich auch an«, sagt Klaus Lederer (Die Linke), Senator für Kultur und Europa, bei dem Jubiläumskonzert, das das Synagogal Ensemble Berlin unter der Leitung von Regina Yantian und der Organist Jürgen Geiger Ende März in dem leeren Gotteshaus in der Rykestraße gegeben haben und das man auf YouTube findet. Der Kultursenator würdigte Lewandowski als »Berliner, deutschen und jüdischen Komponisten«.
Er sei einer der bedeutendsten Komponisten von Synagogalmusik in Deutschland gewesen und gehe als »der größte Reformator der jüdischen liturgischen Musik in die Musikgeschichte« ein. Bis heute bilden seine Kompositionen den Grundstock des Repertoires in liberalen und Masorti-Synagogen.
»Unser Gotteshaus wird ›die Lewandowski-Synagoge‹ genannt.«
Paul Heller, Belsize, London
In diesen Tagen feiern viele Synagogenchöre auf der ganzen Welt Lewandowskis 200. Geburtstag am 3. April. Ob in Johannisburg in Südafrika, in England, in Brasilien, in Los Angeles oder Argentinien – überall gibt es Ensembles, die seine Werke einstudieren und aufführen. Oft haben Emigranten die Musik mitgebracht – so auch nach England. »Unser Gotteshaus wird ›die Lewandowski-Synagoge‹ genannt«, sagt Kantor Paul Heller von der Belsize Square Synagogue in London. Und er selbst gelte als »der Lewandowski-Kantor«, meint er lachend. Mit »Ma towu« ist er in Kolumbien groß geworden – und noch heute verbindet er viel mit diesem Chor. In der Synagoge wünschen sich die Beter »das, was sie kennen, also 60 Prozent Stücke von Lewandowski«. Glücklicherweise habe er viel geschrieben, sagt Paul Heller lächelnd. Auch er hat ein Jubiläumskonzert gegeben, das seit dem 6. April auf YouTube abrufbar ist.
In der Synagoge Pestalozzistraße stammten bestimmt 90 Prozent der Musik aus der Hand Lewandowskis, vermutet Kantor Isidoro Abramowicz. Er schätzt dessen Werke sehr, denn der »Pionier« habe die Liturgie auf einem hohen Niveau erneuert. Auch weil Lewandowski die jüdische Musik mit der Romantik verbinden konnte. Ebenso habe er Motive alter jüdischer Traditionen mit neuen Elementen kombiniert. Derzeit werden die Gottesdienste aus der Synagoge gestreamt, sodass auch Beter aus vielen Ländern teilnehmen können, die diese Tradition leben. Der Kantor verbindet ebenfalls viel mit »Ma Towu« – auch weil er es in seiner Heimat Argentinien am Anfang des Gottesdienstes immer gehört hat.
KARRIERE Als Zwölfjähriger wurde Louis Lewandowski von seinem Vater von der Kleinstadt Wreschen (Wrzeznia) in der damaligen Provinz Posen nach Berlin geschickt. Da er seinen Vater beim Synagogendienst als Hilfssänger unterstützte, war er mit den jüdischen liturgischen Gesängen bestens vertraut. Seine Mutter war gestorben, und nun sollte er in Berlin seinen eigenen Unterhalt verdienen, denn seine Familie in Wreschen war zu arm, um alle ernähren zu können.
Die Karriere von Louis Lewandowski begann in der Synagoge Heidereuterstraße, wo er im Chor mitsang, als musikalischer Gehilfe den Kantor unterstützte und sich so die Schule finanzieren konnte. Später arrangierte er zahlreiche Stücke. Sein musikalisches Talent fiel auf, so wurde er der erste Jude, der an der Akademie der Künste studieren durfte.
Er amtierte als Chordirigent der Jüdischen Gemeinde, schließlich an der Neuen Synagoge, ferner war er Kantorenausbilder an der Lehrerbildungsanstalt der Jüdischen Gemeinde sowie Gesangslehrer an ihrer Knabenschule. Mehrere Titel wie »Königlicher Preußischer Musikdirektor« und Professor der Akademie der Künste wurden ihm verliehen. Wenige Wochen vor seinem 73. Geburtstag starb er und wurde auf dem Friedhof Berlin-Weißensee in der Ehrenreihe beerdigt, wo ein Grabstein an ihn und seine Frau Helene erinnert. Das Paar hatte mehrere Töchter.
GOTTESDIENSTE Bevor seine beiden Sammlungen erschienen, komponierte er auch viel für die Schublade, darunter auch weltliche Stücke. In der Alten Synagoge Heidereuterstraße hätten sich Beter Neuerungen gewünscht – und auch interessantere und eben neue Musik, sagt Isidoro Abramowicz, der zusammen mit Jascha Nemtsov für die Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg zuständig ist. Lewandowski konnte dank seiner Ausbildung Werke beispielsweise des berühmten Wiener Kantors Salomon Sulzer (1804–1890) mit dem Chor der Alten Synagoge einstudieren und aufführen.
In den 1880er-Jahren verdrängten Lewandowskis Kompositionen immer mehr die Werke Sulzers und die von dessen Nachahmern aus dem Repertoire der deutschen Synagogen. »In Berlin konnten außer Lewandowski fast gar keine synagogalen Komponisten mehr aufgeführt werden«, erzählt Nemtsov.
1871, ein paar Jahre, nachdem Lewandowski in der Neuen Synagoge den Chor übernommen hatte, kam das Kol Rinnah u-T’fillah (Stimme des Jubels und des Gebets) heraus. Er legte damit die erste Sammlung musikalisch durchgestalteter Gottesdienste für das gesamte jüdische liturgische Jahr vor.
Als erster Jude durfte er an der Akademie der Künste studieren.
Durch die Anlage der Kompositionen für Kantorensolo und zwei Begleitstimmen bezog Lewandowski neben dem Kantor und dem Chor auch den Gemeindegesang mit ein. Und er nahm Rücksicht auf die Fähigkeiten seiner Sänger und richtete sich nach deren Können: Seine Werke waren singbar, was sie sehr beliebt machte. In den meisten Reformgemeinden wurde Kol Rinnah zum Standardrepertoire.
KANTOREN Mit seiner ersten Sammlung von Synagogalmusik legte Lewandowski auch die Basis für einen neuen Typ von jüdischen Kantoren: Sie sollten gut ausgebildete Musiker europäischer Prägung sein, die einerseits traditionsbewusst und andererseits weltoffen und dem modernen musikalischen Geschmack aufgeschlossen waren. Sechs Jahre später publizierte er seine zweite berühmte Sammlung Todah W’simrah (Lob und Sang) für vierstimmigen Chor, Kantorensolo und Gemeindegesang, die in zwei Bänden 1876 (Schabbat) und 1882 (Festgesänge) erschien.
Daneben komponierte er deutsche Liederbücher für allgemeine und jüdische Schulen, deutschnationale Lieder, auf Synagogenmelodien fußende Instrumentalbearbeitungen für Hausmusik und Kantaten. Die von ihm vertonten 18 Psalmen mit deutschem Text werden auch gerne von Kirchenchören gesungen.
Noch einmal zurück zu den beiden Sammlungen: Woher kamen die Ideen für die zahlreichen Melodien? Lewandowski habe für den Kantor Abraham Jacob Lichtenstein viele von dessen Stücken arrangieren müssen, so Nemtsov. Lichtensteins Gebetsgesänge gingen in den ersten Sammelband ein, »ohne dass Lewandowski Lichtensteins Namen erwähnt«. Erst Musikwissenschaftler haben beim Vergleichen der Manuskripte festgestellt, woher die Chasanut-Melodien stammten, berichtet Nemtsov. »Das größte Verdienst Lewandowskis besteht also gewiss nicht in der Originalität seiner Werke – dafür war seine persönliche kompositorische Begabung nicht genug ausgeprägt –, sondern in dem Erhalt der jüdischen musikalischen Tradition in einer veränderten Form«, fasst Nemtsov zusammen.
Ein bedeutender Teil von Kol Rinnah u-T’fillah sind die kantoralen Rezitative, die in der Regel einen deutlichen Bezug zur norddeutschen und osteuropäischen jüdischen Tradition (Minhag Polin) aufweisen. Lewandowski wusste, dass die Kunst des kantoralen Rezitativs, die eine Verbindung von Überlieferung und Improvisation darstellte, in Westeuropa im Niedergang begriffen war.
NOTIZEN »Er hat sehr viel geschrieben, er war ja auch ein Künstler und musste sich und seine Familie ernähren«, sagt der Rabbiner und Publizist Andreas Nachama. Dabei hatte er eine ganz gute Methode entwickelt: Die Kantoren, die in der Neuen Synagoge einen Zwischenstopp einlegten, brachten ihre Werke mit und sangen ihm vor.
Damals gab es noch keine Möglichkeit der Tonaufzeichnung, weshalb Lewandowski nichts anderes übrig blieb, als die Noten mitzuschreiben, was sehr lange dauert und aufwendig ist. »Viele Sachen sind deshalb eigentlich auch keine Kompositionen, denn er hat sie nur notiert«, sagt Nachama. Aber da die Melodien sozusagen aus dem Volk kamen, waren sie auch sehr beliebt. Und deshalb gebe es auch viele Ähnlichkeiten zu den Werken des Kantors Salomon Sulzer.
Ein Großteil seiner Kompositionen werde auch in orthodoxen Gemeinden gesungen – dann als Männerchor. Die Stücke seien volksliedartig, blieben unerkannt und anonym, so der Rabbiner. Sein Lieblingswerk von Lewandowski ist »Torat Adonai«, Psalm 19, 8-10 – bevorzugt in einer Aufnahme seines Vaters Estrongo Nachama.
Seine Musik ist mittlerweile selbst zur Tradition geworden.
Noch bevor die zwei Sammlungen publiziert wurden, wurde Lewandowski zum Dirigenten der Neuen Synagoge berufen, die 1866 in der Oranienburger Straße eingeweiht wurde. Diese Position an der größten deutschen Synagoge eröffnete ihm musikalisch völlig neue Möglichkeiten, da in diesem Haus nach einem sogenannten Orgelstreit ebendieses Instrument eingerichtet worden war. Doch Lewandowski hatte wohl auch einige negative Eigenschaften: Zum einen war er anscheinend kein guter Lehrer. Zum anderen konnte er auch intrigieren, um seine Position in der Jüdischen Gemeinde zu festigen, meint Nemtsov.
SYMPHONIE Als Vermittler und Brückenbauer gebühre Lewandowski indes ein Ehrenplatz in der Geschichte jüdischer Musik. »Seine Musik ist mittlerweile selbst zur Tradition geworden – zu einem Teil der deutschen liberalen Tradition.« Viele seiner Werke besäßen zudem hohe musikalische Qualitäten, die ihr Weiterleben im jüdischen liturgischen Repertoire auch in Zukunft sichern würden. Es sei unbekannt, wo sich der persönliche Nachlass des Komponisten heute befindet. Die Informationen, die heute zur Verfügung stehen, basieren daher zum großen Teil auf Darstellungen seiner Biografen, so Nemtsov. Diese seien allerdings nicht immer zuverlässig. Er habe viel mehr geschrieben, als heute bekannt ist, ergänzt Isidoro Abramowicz. Lewandowskis gedruckte Werke stehen im Online-Archiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt.
Und dann gibt es noch die Vermutung, dass Louis Lewandowski auch eine Symphonie komponiert haben könnte. »Diese Legende taucht immer wieder mal auf«, sagt Nemtsov. Auch Andreas Nachama hat davon schon gehört. Vielleicht schlummert sie noch in einem Archiv. »Man findet manchmal an den seltsamsten Orten Papiere, Urkunden und Noten«, sagt Andreas Nachama.