Ellen heftet sich den Judenstern freiwillig an. Doch sie gehört nirgendwo richtig dazu. Mit der Protagonistin ihres einzigen Romans Die größere Hoffnung hat sich die Österreicherin Ilse Aichinger 1948 die Qual ihrer jüdischen Herkunft unter dem Naziregime von der Seele geschrieben. Mutter und Großeltern der Schriftstellerin waren Juden. Aichinger starb am Freitag kurz nach ihrem 95. Geburtstag in Wien, wie der Verlag S. Fischer in Frankfurt am Main bestätigte.
In Wien wurde sie 1921 gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Helga als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin geboren. Nach der frühen Scheidung der Eltern lebte sie vor allem bei ihrer jüdischen Großmutter. Nach der Besetzung Österreichs durch die Nationalsozialisten 1938 entkam Helga mit einem Kindertransport nach England. Ilse blieb in Wien und bewahrte ihre Mutter als Erzieherin einer noch unmündigen »Halb-Arierin« vor der Deportation.
Versteck Ihre geliebte Großmutter konnte sie nicht retten. Ilse Aichinger sah sie zum letzten Mal, als diese 1942 auf einem Lastwagen deportiert wurde. Sie setzte ihr ein Denkmal in ihrem autobiografisch gefärbten Roman. Kaum volljährig geworden, versteckte sie ihre Mutter in einem Zimmer, das ihr selbst zugewiesen worden war – in unmittelbarer Nachbarschaft des Wiener Gestapo-Hauptquartiers.
Aichingers Romanheldin Ellen wird von einer Granate zerfetzt. Ilse Aichinger lebte weiter, obwohl sie nach eigenem Bekunden eigentlich immer verschwinden wollte. Bis vor wenigen Jahren besuchte sie noch täglich vier Kinovorstellungen, um vergessen zu können.
In den letzten Jahren wurde es still um die Grande Dame der österreichischen Literatur. Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer attestierte ihr »ein feines Ohr für die Falschheit der Ersatzantworten«. Schon nach dem Unfalltod ihres Sohnes Clemens 1998 hatte sie angefangen, sich zurückzuziehen.
Ihr Lebensmotto »Vivere non necesse est« (Leben ist nicht nötig) machte Ilse Aichinger immun gegen öffentliches »Geräusch«, wie sie formulierte. Mit ihrem Schreiben befriedigte sie keinen persönlichen Ehrgeiz, vielmehr wollte sie die »unvorstellbare Stummheit des Sterbens«, wie sie es in dem Wien der Nazis erlebt hatte, sprachlich präsent machen: »Die Stummheit immer wieder in das Schweigen zu übersetzen, das ist die Aufgabe des Schreibens«, sagte sie.
Nach dem Krieg studierte Ilse Aichinger Medizin, brach das Studium aber nach fünf Semestern ab, um ihren Roman zu vollenden, der ihr einziger bleiben sollte. Der Verleger Gottfried Bermann-Fischer wusste ihr Manuskript zu schätzen, die Leser nicht. Bis 1950 arbeitete die Jungautorin als Lektorin im S. Fischer Verlag in Wien und Frankfurt, bevor sie als Assistentin zu Inge Aicher-Scholl, der Schwester der hingerichteten Geschwister Scholl, an die Hochschule für Gestaltung in Ulm wechselte.
Schon im Jahr darauf stieß sie zu der legendären »Gruppe 47«, wo sie den Dichter Günter Eich kennenlernte. 1952 erhielt sie für die Spiegelgeschichte den Preis der Gruppe. Mit dieser Erzählung eines Lebens aus der rückläufigen Perspektive einer Sterbenden gelang ihr der Durchbruch auch bei den Lesern.
Dem Erzählen vom Ende her blieb sie weiterhin treu. Auch die fließenden surrealen Übergänge zwischen Traum und Realität kehrten in spätere Prosasammlungen wie Kleist, Moos, Fasane (1987) und in ihrem Lyrikband Verschenkter Rat (1978) wieder. Ihre Sprachkritik trieb sie unter dem Titel Schlechte Wörter (1976) auf die Spitze.
1953 heiratete sie Günter Eich und veröffentlichte ihr Hörspiel Knöpfe. Mit den Kindern Clemens und Mirjam lebte das Ehepaar zunächst im oberbayrischen Lenggries, dann am Chiemsee und seit 1963 im salzburgischen Großgmain. Nach dem Tod ihres Mannes 1972 und dem Tod ihrer Mutter 1981 zog Ilse Aichinger wieder nach Frankfurt und 1988 zurück nach Wien, wo sie Anfang der 90er-Jahre nach längerer Pause wieder zu schreiben begann.
Sonder-edition Zu ihrem 70. Geburtstag gab der Germanist Richard Reichensperger ihre Kurzprosa und Gedichte in einer achtbändigen Edition bei S. Fischer heraus. Danach erschienen immer wieder Anthologien aus Texten, die sie als Kolumnen für die Wiener Tageszeitung »Der Standard« verfasste. Dazu gehört die Sammlung Film und Verhängnis – Blitzlichter auf ein Leben (2001), die von der Kritik gefeiert wurde.
2005 kamen ihre Kolumnen unter dem Titel Unglaubwürdige Reisen heraus, 2006 erschien Subtexte. Im gleichen Jahr übergab sie ihren Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Der österreichische Literaturkritiker Hans Haider schätzte Ilse Aichingers Plädoyer »gegen alles Laue und Gefühlige«. Aichingers Poesie sprach leise und beschwörend von Angst und Schmerz. Schreiben, bekannte Ilse Aichinger, bedeute für sie »sterben lernen«. epd