Mit 92 Jahren eine anspruchsvolle Sinfonie zu komponieren ist einfach – vorausgesetzt man heißt Lalo Schifrin. Der argentinisch-amerikanische Meister tat sich für sein aktuelles Projekt mit dem um Jahrzehnte jüngeren Komponistenkollegen Rod Schejtman zusammen.
Als »Hommage an die letzten 40 Jahre argentinischer Geschichte« wurde das Werk angekündigt. Es geht also um die Phase, die nach dem Ende der Militärdiktatur begann. Wenn am 5. April 2025 im mehr als eleganten Teatro Colón in Buenos Aires im Beisein von Präsident Javier Milei die Weltpremiere des Werkes stattfindet, kann Lalo Schifrin mit dieser Kooperation zweier Genies aus zwei Generationen ein weiteres Projekt abhaken – auf einer ebenso endlosen wie vielfältigen Liste.
Eine zweite Sensation soll am selben Abend gespielt werden: Schifrins berühmtes »Mission Impossible Theme«, das fast jeder Bewohner der westlichen Welt im Alter von über 15 Jahren kennen dürfte, wird in einer sinfonischen Version dargeboten.
Roter Drache
Boris Claudio »Lalo« Schifrin ist Pianist, Arrangeur und Dirigent, vor allem aber Komponist. Es gibt absolut kein mit Qualität verbundenes Genre, das er noch nicht angefasst hätte. Mit dem Einfluss aus dem Nachbarland Brasilien könnte es zu tun haben, dass er Bossa Nova und Samba liebt und liefert. Diese Genres sind aber nur ein Bruchteil seines Werkes.
Nicht nur haben wir es hier mit Musik zu tun, sondern auch mit Schauspiel: Wer im Jahr 2002 die jüngste von bisher zwei guten Kinoadaptionen des Romans »Red Dragon« von Thomas Harris sah, dem wird gleich in der ersten Szene ein überzeugender Dirigent vor einem Orchester aufgefallen sein. Die Erklärung dafür, warum dieser so authentisch wirkte: Es handelte sich um den damals 70-jährigen Lalo Schifrin, der als echter Dirigent sehr genau wusste, was er vor der Kamera zu tun hatte – das taktgenaue Schütteln seiner grauen Mähne inklusive.
Geschichten sind oft am besten, wenn sie am Anfang beginnen. Am ersten Sommertag des Jahres 1932 gab es in Buenos Aires ein Ereignis, das einen Glücksfall für die Musikwelt darstellte: Ein jüdisches Ehepaar bekam einen Jungen. Über Lalo Schifrins Mutter ist leider nichts bekannt. Sein Vater Luis war 30 Jahre lang Leiter der zweiten Geigen-Sektion im Orchester des Teatro Colón. Der Apfel fällt offensichtlich auch hier nicht weit vom Stamm.
Wildgans im Tiefflug
Im Alter von sechs Jahren begann Lalo, Klavierstunden zu nehmen. Sein erster Lehrer war niemand geringerer als Enrique Barenboim, der Vater des in Berlin lebenden Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim.
An der Universität von Buenos Aires studierte Schifrin später Jura und Soziologie. Was ihn jedoch am meisten beschäftigte, hatte mit diesen Fächern in etwa so viel zu tun wie eine Wildgans im Tiefflug mit einer Tüte Pommes mit Mayo: die Musik. So landete er am Conservatoire de Paris. Sein Konzept: Tagsüber wurde studiert, nachts in Jazz-Clubs improvisiert. Jazz war längst eines von Schifrins Steckenpferden geworden.
Seine Kooperationen begann ein junger Lalo Schifrin mit dem Bandoneon-Spieler und Komponistenkollegen Astor Piazzolla, einem Landsmann, dessen Pianist er wurde. Im Laufe der Jahrzehnte spielte er auch mit Dizzy Gillespie, für den er die Suite »Gillespiana« schrieb, sowie mit dem Tanzorchester-Leiter Xavier Cugat und dem Saxofon-Helden Johnny Hodges.
Disco und Funk
Mehr als schöne Bossa- und Samba-Stücke mit starkem Jazz-Einschlag sowie Latin Jazz-Nummern, die sich eher in Richtung Salsa bewegten, spielt Lalo Schifrin seit den 1960er Jahren und verewigte diese mehrfach auf Vinyl. In den 70ern beschäftigte er sich auch mit Disco und Funk. Sein Song »Middle of the Night« von seinem Album »No One Home« ist ein beeindruckendes Musterbeispiel für eine mit Jazz-Funk garnierte Soul-Ballade. Sie enthält Schönheit, aber auch teure Arrangements – Tonartwechsel inklusive.
Kein anderer Weltklassemusiker auf diesem Planeten wechselt nicht nur seine Tonarten, sondern auch seine Genres so regelmäßig wie Lalo Schifrin aus Argentinien, der 1969 auch Staatsbürger der USA wurde. Während er sich noch mit Bossa und Jazz beschäftigte, schrieb er nebenbei seine »Symphonic Impressions of Oman«, ein Auftragswerk, das ebenfalls brillant ausfiel.
In der Welt der Filmmusik hat Lalo Schifrin vermutlich am meisten Material geliefert. Selbst schlechten Filmen hauchte er mit faszinierenden Soundtracks Leben ein. Zu dieser Kategorie zählt »Airport ’79: The Concorde«. Die Stars George Kennedy und Alain Delon schafften es nicht, diesen vierten Teil der sonst faszinierenden »Airport«-Serie zu retten, so viel sie ihre Gesichter auch in die Kamera hielten – wohl aber Lalo Schifrin.
»Dirty Harry« und Tango
»Majestic Bird«, ein Teil des »Concorde«-Soundtracks, ist in der Tat majestätisch und umwerfend. Wer den »Main Title« von Schifrins »Airport«-Filmmusik hört, könnte meinen, Anton Bruckner sei nach 129 Jahren wiederauferstanden und hätte unter dem Einfluss einer auf Ex konsumierten Familienpackung Red Bull eine zehnte Sinfonie komponiert.
Für Clint Eastwood-Filme schrieb Lalo Schifrin ebenfalls Soundtracks, die nicht nur diesen Hollywoodhelden begeisterten, sondern auch eine ganze Generation von Kinogängern. »Dirty Harry« und »Deadpool«? Von Schifrin. »Magnum Force«? Klar. »Sudden Impact«? Auch hier war der Meister am Werk.
Die Filmmusik-Aufträge stapelten sich, wurden dann aber schnell abgearbeitet. Trotz allem fand Lalo Schifrin immer wieder Zeit für Klänge, die ihm besonders wichtig sind. Dazu gehörte auch der Tango. Sein vor 63 Jahren komponiertes Instrumentalstück »Silvia« mit all diesen romantisch anmutenden Streicher-Einlagen ist ebenfalls eine Aussage. Vermutlich hat er einst eine Frau dieses Namens geliebt. Seit Jahrzehnten lebt er jedoch mit seiner Frau Donna Schifrin in den Vereinigten Staaten. Das Paar hat drei Kinder.
Nicht viele Musiker auf dieser Welt können von sich behaupten, gleich fünf Grammy Awards erhalten zu haben. Bei Schifrin waren es vier reguläre Grammys und ein Latin Grammy. ¡Gracias por toda la música, Lalo!
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