Porträt

»Lach über den Tod«

Alte Dame mit Metal-Band: Inge Ginsberg bei ihrem Auftrittt als Kandidatin für den Eurovision Song Contest im November 2014 in Zürich Foto: SRF

In Inge Ginsbergs Wohnung im noblen Zürcher Seefeld-Viertel fallen zwei große leere Koffer auf, die bestimmungslos herumzustehen scheinen. »Die stehen noch von der letzten Reise hier und sind schon wieder bereit für die nächste«, erklärt die Hausherrin.

Dann weist die agile kleine Frau mit der blonden Frisur auf ein weiteres Merkmal ihrer großzügigen Wohnung hin: »Sie sehen hier kaum Bilder, Wertgegenstände oder andere Kostbarkeiten, die viele Menschen sonst gerne um sich haben.« Inge Ginsberg hat nicht etwa Angst vor Einbrechern, weil sie so häufig auf Reisen ist. Es hat mit ihrer Lebenserfahrung zu tun: »Es gibt nichts, was mich zurückhält«, schreibt sie in ihren Lebenserinnerungen Die Partisanenvilla.

flucht Die 1922 als Inge Neufeld in eine wohlhabende Wiener jüdische Familie Geborene musste früh lernen, dass materieller Besitz zwar schön ist und viele Türen öffnet, einen aber nicht vor Hass und Neid schützen kann. Nach dem »Anschluss« 1938 wird ihre Familie auseinandergerissen. Der Vater, ein dekorierter Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, muss alleine ausreisen, und zwar auf der »St. Louis«, dem berühmten Flüchtlingsschiff, das 1939 nach einer Odyssee über die Weltmeere wieder nach Deutschland zurückkehrt, nachdem seine jüdischen Passagiere in Kuba nicht einreisen durften.

Viele von ihnen werden in der Schoa ermordet. Fritz Neufeld hat Glück, schafft es nach England, versucht dort Visa für seine Familie zu bekommen, was misslingt. Er wird seine Frau und seine zwei Kinder erst 1947 wiedersehen; bis dahin wissen sie voneinander nicht, ob sie überlebt haben.

Der Mutter gelingt 1942 mit den beiden Kindern Inge und Hans Walter eine abenteuerliche Flucht über die Alpen in die Schweiz, nachdem sie jahrelang in Wien als »U-Boote« illegal überlebt haben. Die Neufelds landen, wie viele andere Flüchtlinge, in ihrem Zufluchtsland dann in verschiedenen Arbeitslagern: nicht gerade ein Ferienaufenthalt, aber im Vergleich zum Erlebten doch fast das Paradies.

1944 wird Inge, gerade mal 22 Jahre alt, durch Vermittlung ihres Freundes und späteren ersten Ehemanns Otto Kollmann die Stelle einer Haushälterin in Lugano angeboten. Otto arbeitet zu der Zeit im Tessin als Barpianist. Inge zögert, sie hat gerade eine Affäre mit einem Franzosen, der sich später als Résistance-Kämpfer entpuppt. Doch sie entscheidet sich schließlich für Kollmann.

spionage Mit dem Widerstand verbunden bleibt sie dennoch. Die Villa Westphal in Lugano, in der Inge Neufeld ihren Dienst antreten soll, erweist sich nämlich als »Partisanenvilla« (darum auch der Buchtitel), betrieben vom amerikanischen Geheimdienst OSS, der in der neutralen Schweiz (wie andere Kriegsnationen) überaus aktiv ist.

Die Bewohner sind vor allem Amerikaner, aber auch Italiener, die über die nahe, wenn auch gut bewachte Grenze kommen und gehen, um dort die deutschen Besatzer und die italienischen Faschisten zu bekämpfen. Aus dem Tessin werden Waffen ins Kriegsgebiet geschmuggelt, aus Italien Verwundete in die Schweiz geschleust. Inges Freund Otto Kollmann horcht derweil in der Bar, in der er spielt, die zahlreichen deutschen Gäste aus.

Inge Ginsberg beschreibt das Lugano jener Monate als eine Art kleinen Spionage-Nabel der Welt, eine Art schweizerisches »Casablanca«. Ein Mikrokosmos, in dem sogar Weltpolitik geschrieben wird. Eines Nachts wird Inge Ginsberg nämlich unfreiwillig Zeugin einer geheimen Operation. Männer aus »ihrer« Villa kommen erst um vier Uhr früh zurück, sie sind in ausgelassener Stimmung und feiern. Sie haben einen Mann befreit, der sich in der Gewalt anderer Partisanengruppen befunden hatte.

Dieser Mann ist SS-General Karl Wolff, Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Norditalien. Dieses Unternehmen, in das auch der Schweizer Geheimdienst involviert ist, wird unter dem Namen »Operation Sunrise« in die Geschichte eingehen: Es beendet den Krieg in Norditalien. Dass der Kriegsverbrecher Wolff (dem Inge Ginsberg nie persönlich begegnet ist) für den Tod Tausender Juden verantwortlich ist, und trotzdem praktisch straffrei ausgeht, ist eine der dunklen Seiten dieser Geschichte. Es ist Teil eines Deals der Deutschen mit den Amerikanern, dank dessen es auch gelingt, italienische Kulturschätze wie da Vincis »Abendmahl« in Mailand vor der drohenden Zerstörung zu bewahren. Ein Filmstoff, findet Inge Ginsberg. Sie hat darüber schon vor Langem ein Drehbuch verfasst, noch sucht sie einen Regisseur.

israel Im Mai 1945, nach Kriegsende, entlassen die Amerikaner Inge und Otto aus ihren Diensten. Es herrscht nun Kalter Krieg in Europa, die Prioritäten werden anders gesetzt. Für die Kollmanns gäbe es eine Stelle ausgerechnet in Wien, nun Schnittstelle zwischen Ost und West, aber dahin will Inge aus verständlichen Gründen nicht mehr. Den Judenhass der Österreicher hat sie nicht vergessen.

Und später wird sie ihn in ihrer ehemaligen Heimatstadt wieder spüren. Als sie einmal zu Besuch in Wien mit israelischen Freunden im Kaffeehaus sitzt, erzählt Inge Ginsberg, hört sie, wie der junge Kellner, der nicht weiß, dass sie Deutsch spricht, sagt: »Da san’s wieder, die Saujudn, san net alle vergast worden, und ich muss sie bedienen.«

Hollywood heißt darum bald eine der nächsten Stationen, nachdem Inge es zwischendurch auch im jungen Staat Israel probiert hat, kurzzeitig sogar in einem Kibbuz. Bis heute hat sie in Tel Aviv eine Wohnung, wie in Zürich, New York und früher der ecuadorianischen Hauptstadt Quito, in der sie meistens, auch in diesem Jahr, den Winter verbringt. Inge Ginsberg hatte sich im Krieg geschworen, Alija zu machen, wenn sie und ihre Lieben die Schoa überleben sollten.

Nach 1945 vergisst sie ihr Versprechen, bis sie eines Nachts im Jahr 1956 davon träumt. Just zu der Zeit – sie ist inzwischen in Zürich Journalistin bei der »Weltwoche«, erhält sie eine überraschende Einladung, beim ersten Flug der neuen Direktlinie Zürich–Tel Aviv als Gast der El Al mitzufliegen. Sechs Stunden, ein Propellerflug. Mit an Bord sind Prominente wie der Sohn des österreichischen Dichters Hugo von Hofmannsthal. Ebenfalls an Bord, aber das erfährt Inge Ginsberg erst viel später, sind anscheinend auch Einzelteile für den Atomreaktor in Dimona.

In Israel lernt Inge Ginsberg dann ihren zweiten Mann kennen, einen Hotelmanager, mit dem sie in den 60er-Jahren verheiratet ist (ihre einzige Tochter, Marion, stammt aus ihrer ersten Ehe). Die Tel Aviver Wohnung kaufte Inge Ginsberg vom Verkaufserlös dreier Farmen in der Nähe von Haifa. Die hatte ihre weitsichtige Großmutter, eine lebenslange Zionistin, bereits 1936 erworben.

hollywood Doch davor lebt sie mit Otto Kollmann in Hollywood. Besonders wohl fühlen sich die beiden dort aber nicht, trotz der Bekanntschaft mit Größen wie Doris Day, Dean Martin oder Nat King Cole, die alle von Otto Kollmann komponierte Lieder singen, zu denen Inge die Texte schreibt. »Wir mussten bald lernen, dass persönliche Beziehungen nichts bedeuten, der Erfolg aber alles gilt.«

Sie, die reiche Frau aus gutbürgerlichem Haus, der es – außer während ihrer Flüchtlingsjahre in der Schweiz – nie an materiellen Gütern mangelte, stört sich auch daran, dass in den USA menschlicher Kontakt so häufig über Geld definiert würde. Dass die Kollmanns von einem skrupellosen Manager ausgenommen werden, trägt zusätzlich zur Missstimmung bei. Und so landet Inge schließlich auf Umwegen in Ecuador, wo sie später ihren dritten Mann kennenlernt, Kurt Ginsberg, ebenfalls Emigrant aus Wien. Auch diese dritte Ehe scheitert, aber Inge Ginsberg behält den Namen und eine Zeit lang die Wohnung in Quito. Inzwischen hat sie diese aufgegeben: »Die 3000 Meter Höhe, auf denen Quito liegt, die waren nichts mehr für mich.«

Das ist aber auch die einzige Konzession, welche die bald 93-Jährige in den letzten Jahrzehnten an ihr steigendes Alter gemacht hat. Sonst ist das für Inge Ginsberg kein Thema. Ihr letzter Liebhaber, mit dem sie einige Jahre zusammen war, erzählt sie, war gut 40 Jahre jünger als sie.

song »Sing und iss und trink und lach, dann fährt der Teufel zur Hölle ab«, heißt es folgerichtig auch in dem Lied »Totenköpfchen«, das Ginsberg zusammen mit der Metalband Tritone Kings als Schweizer Beitrag für den Eurovision Song Contest 2015 einstudiert hatte. »Lach über den Tod«, heißt es weiter. Ginsberg gab den Text im Glitzerkleid am Mikrofon zum Besten, eine Soubrette, die aussah wie 43, nicht wie 92. Ihre drei Begleitmusiker trugen totenkopfähnliche Masken.

Dem Schweizer Publikum gefiel der Anblick anscheinend aber nicht besonders. »Totenköpfchen« schied bereits in der Vorausscheidung beim Publikums-Voting Mitte November sang- und klanglos aus. Das enttäuscht die dynamische Seniorin doch sehr. Zumal der ESC 2015 ausgerechnet in Wien stattfindet, wo Inge Ginsberg ihr »Totenköpfchen« gerne präsentiert hätte – eine der Pointen, die das Leben manchmal bereithält. Es hat nicht sollen sein. »Die Schweizer haben halt manchmal eine sehr konservative Seite«, analysiert sie: »Sie wollen nicht durch Tabuthemen, wie der Tod eines ist, herausgefordert werden.«

Schon ein Jahr zuvor, 2013, hatte Inge Ginsberg sich für den Eurovision Song Contest beworben und war ausgeschieden, damals mit einem Lied über Selbstmorde bei jungen Menschen, ein Thema, das sie sehr berührt. Beirren lässt sie sich von den Misserfolgen nicht. »Ich habe auch für den ESC 2016 schon eine Idee und werde wieder antreten«. Wer 120 Jahre alt werden will – und das hat Inge Ginsberg ganz fest vor –, muss schließlich für die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, planen.

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