»Ich würde die Oper empfehlen», schlägt Sarah ihren ausländischen Gästen vor und nimmt sie mit in eine Aufführung im prachtvollen Opernhaus auf dem Carmel-Berg. So beschrieben im zweiten Teil – «Haifa 1923» betitelt – in Theodor Herzls utopischem Roman Altneuland (1902).
Der Vordenker des jüdischen Staates lag mit dieser Zukunftsmusik fast richtig: Die erste Eretz-israelische Oper wurde tatsächlich im Jahr 1923 gegründet, allerdings nicht in Haifa, sondern in der noch jungen Stadt Tel Aviv. Ein imposantes Opernhaus gab es nicht, eine große Bühne für Aufführungen fehlte ebenso wie ein Berufsorchester. Auch die finanziellen Quellen waren äußerst spärlich – und doch wurden im Laufe von nur vier Spielzeiten (bis Sommer 1927) nicht weniger als 17 Opern aufgeführt, wohlgemerkt alle in hebräischer Übersetzung.
vision Bereits im zaristischen Russland träumte der hochbegabte Musiker und an mehreren Opernbühnen erfolgreiche Dirigent Mordechai Golinkin (1875–1963) von der Gründung einer hebräischen Oper. Seine Vision legte er ausführlich in dem Manifest «Der Tempel der Kunst in Eretz Israel» dar. Das hebräische Opernhaus sollte den gleichen Wert haben «wie das Wagner-Theater in Bayreuth für die Deutschen und La Scala in Mailand für die Italiener». Er war zuversichtlich, dass das Unternehmen sich selbst tragen würde, da «Juden, Araber, im Lande weilende Europäer und Touristen» in großer Zahl kommen würden.
Unterstützung bekam Golinkin damals von gleichgesinnten Mitstreitern, darunter der Dichter Saul Tschernichowski und der hochgeschätzte Opernsänger Fjodor Schaljapin. «Ich glaube an Sie, Sie besitzen die Kraft, es zu schaffen», ermunterte ihn der berühmteste Bassist seiner Zeit und nahm an einem Konzertabend teil, um Spenden für das Projekt zu sammeln. Dabei sang er jüdische Volkslieder in jiddischer Sprache und die hebräische Hatikwa-Hymne.
Ein Vertragsangebot von der renommierten Mariinski-Oper in Sankt Petersburg lehnte Golinkin ab. «Ich war fest entschlossen, meinen Weg nach Eretz Israel zu gehen», schrieb er Jahre später in seinen Memoiren. Anfang Mai 1923 erreichte er mit seiner Familie endlich Jaffa, wo ihn Freunde mit Begeisterung empfingen. Weniger als drei Monate später, am 26. Juli, dirigierte er Verdis La Traviata, das Werk, mit dem die «Eretz-israelische Oper» eingeweiht wurde.
So gut wie alle Sänger der Premiere kamen aus Russland und konnten kein Iwrit.
Laut offizieller Volkszählung im damals britischen Mandatsgebiet lebten in Tel Aviv 15.190 Juden. Zwar wurden in der 1909 gegründeten Stadt kleine und größere Wohnhäuser gebaut, doch ein Viertel der Einwohner hauste in Baracken und Zelten. Die Allenby-Straße, auf der Golinkin bei seiner Ankunft «drei bis vier zweistöckige Gebäude» erblickte, dehnte sich bis zum Strand aus, wo das Galei-Aviv-Casino aus dem Meer ragte.
Bis zur Gründung der Oper bestand das Musikleben aus Konzerten und Gesangsabenden. Kurz vor Golinkins Einreise fand ein Abend mit eingewanderten «Künstlern der russischen Oper» statt, die Arien aus Charles Gounods Faust in hebräischer Übersetzung zu Gehör brachten. Da kein Orchester vorhanden war, wurden die Solisten am Klavier begleitet. Es handele sich um ein Konzert, nicht um eine Oper, beklagte sich ein Rezensent, denn «die Oper benötigt viel mehr als das, was unsere Opernsänger anbieten». Es scheint, als sei Golinkin zum richtigen Zeitpunkt ins Land gekommen.
Bemerkenswert auch: Golinkin verwirklichte seinen Traum, noch bevor das Sprechtheater im Land Fuß fasste. Das Arbeitertheater «Ohel» wurde 1925 gegründet, die Habimah-Truppe kam erst 1928 ins Land. Zuvor waren die Schauspieler in Europa und den USA aufgetreten.
«Ein großes Fest für den kulturellen Jischuv im Land», schrieb ein Publizist, der die Premiere von La Traviata miterlebte. Die Solisten und Chormitglieder «auf der winzigen Bühne» wurden vom Orchester unter dem «erfahrungsreichen alten Dirigenten» Golinkin begleitet. So gut wie alle Mitwirkenden stammten aus Russland und hatten keine Hebräischkenntnisse.
HATIKWA Bevor sich der Vorhang öffnete, spielte das Orchester die Hatikwa sowie die englische Nationalhymne. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Viele standen vor geschlossenen Türen und lauschten von draußen. Die Aufführung wurde «mit stürmischen Ovationen» bejubelt. Es waren auch «einige dabei, die Traviata in Paris, Wien, Berlin, Moskau und Odessa erlebt haben, und sie beteten flüsternd den Segensspruch Schehechejanu», notierte einer der Besucher.
Die hebräische Oper sollte den gleichen Wert haben wie das Wagner-Theater in Bayreuth.
Da kein angemessener Saal vorhanden war, fanden alle Aufführungen auf räumlich stark begrenzten Lichtspielbühnen statt: In Tel Aviv das «Eden», in Jerusalem das «Zion», und in Haifa musste man sich mit einem privaten Ziegenstall begnügen, der für die jeweilige Produktion umgestaltet worden war. Die Inhaber der Lichtspielhäuser waren wenig geneigt, auf die Einnahmen durch die Filmabende zu verzichten, und stimmten deshalb nur einer einzigen Opernaufführung pro Woche zu.
Am Ende der ersten Saison, in der sechs Opern aufgeführt wurden, zählte das Orchester bereits 23 Musiker und der Chor 20 Sänger. Vier Balletttänzer kamen hinzu. Der aus Warschau stammende Künstler Shmuel Melnik war zuständig für die gemalten Bühnendekorationen, die teilweise von Studierenden der Bezalel-Kunstakademie angefertigt wurden.
Die meisten Ensemblemitglieder waren beruflich anderswo angestellt und standen vor der Herausforderung, ihre Teilnahme an den Aufführungen zeitlich mit dem Brotberuf zu vereinbaren. Mehrere von ihnen, die außerhalb Tel Avivs lebten, reisten für die Proben, die meist vier bis fünf Stunden dauerten, eigens in die Stadt. Ohne die kollektive Hingabe hätte die erste hebräische Oper nicht einmal vier Spielzeiten überlebt, zumal das Honorar – soweit überhaupt eines gezahlt wurde – sehr gering war.
zugaben Die Aufführungen begannen meistens um 20 Uhr und zogen sich oft bis weit nach Mitternacht hin. Auf Anordnung des strengen Golinkin wurden die Türen fünf Minuten vor Beginn des ersten Akts geschlossen – man nannte diese Regelung «Golinkin-Zeit». Zuschauer, die zu spät kamen, mussten bis zum Ende des ersten Aktes draußen warten. So auch einmal der Tel Aviver Bürgermeister Meir Dizengoff. Golinkin verbot zudem Ovationen während der Aufführung und untersagte Zugaben.
In der zweiten Saison mit weiteren sechs Opern wuchs die Zahl der Solisten sogar ohne Gastsänger. Unter diesen insgesamt neun Gesangskünstlern waren drei, die seinerzeit in Odessa unter Golinkins Dirigat Aida aufgeführt hatten und auf seinen Rat hin nach Eretz Israel eingewandert waren. Dies war auch einer der entscheidenden Gründe dafür, dass die neue Spielzeit mit Aida eröffnet wurde. Eine begeisterte Rezension erschien in Warschau, und zwar in der hebräischen Zeitung «Heatid»: «Vier Stunden lang folgten die Zuschauer, Araber, Juden und Engländer vereint, den Klängen von Aida.»
Alle Opern wurden ins Hebräische übersetzt (Aida von dem renommierten Dichter Abraham Shlonsky). Dem hebräischen Libretto wurde jeweils eine Zusammenfassung in englischer ebenso wie arabischer Sprache hinzugefügt – ein weiterer Beleg für Golinkins ausdrücklichen Wunsch, die Eretz-israelische Oper auch arabischen Musikliebhabern zugänglich zu machen.
REPERTOIRE Doch die Finanzierungsquellen, die von Anfang an bescheiden waren, versiegten allmählich. Notgedrungen waren die letzten beiden Spielzeiten kürzer und boten insgesamt nur fünf neue Inszenierungen. Dennoch gab Golinkin das Herzstück seiner Vision nicht auf und dirigierte wieder, wie in jeder Saison, eine «hebräische Oper».
Waren es zunächst Fromental Halévys La Juive und Camille Saint-Saënsʼ Samson et Dalila, so wurden nun Anton Rubinsteins Makkabäer und zuletzt Meyerbeers Hugenotten aufgeführt. Dabei stellte sich bei Musikkennern die Frage, was genau diese unterschiedlichen Werke zu «hebräischen Opern» machte.
Nach vier Spielzeiten waren 1927 die Mittel erschöpft – viele Sänger verließen das Land.
Für Golinkin genügte es offenkundig, wenn eines von zwei Kriterien erfüllt war: eine jüdische (auch biblische) Thematik oder die jüdische Herkunft des Komponisten. Die Frage, ob sich in der Kunstmusik eine spezifisch jüdisch-hebräische Musiksprache verwirklichen ließe, stand nicht im Vordergrund.
Im Sommer 1927 reiste Golinkin in die USA, in der Hoffnung, Spenden und Finanzierungszusagen für die Weiterführung der Oper einzuwerben. Doch die zweijährige Reise verfehlte ihr Ziel und mündete in einer großen Ernüchterung. Hinzu kam: Kurz nach Golinkins Rückkehr – fast alle Solisten hatten bereits das Land verlassen – kam es zu Unruhen, den sogenannten Ausschreitungen von 1929, und Golinkin musste seine Pläne einstellen.
In den darauffolgenden Jahren gab es immer wieder sporadische Versuche, eine hebräisch-israelische Oper zu etablieren, so zum Beispiel von der Sängerin Edis De Philippe. Aber erst seit 1985 – mit der Gründung der Neuen Israelischen Oper in Tel Aviv – kann der jüdische Staat für sich beanspruchen, Herzls Vision eines international strahlkräftigen und zugleich erfolgreich wirtschaftenden Opernhauses eingelöst zu haben. Doch dies schmälert nicht die Pionierarbeit, die Golinkin vor genau 100 Jahren leistete.