NS-Propaganda

Kurze Welle, lange Folgen

Zeesen im Landkreis Dahme-Spree in Brandenburg zählt 5822 Einwohner. Das malerische Örtchen am gleichnamigen See erfreut sich im Sommer zahlreicher Besucher. Aber nur wenige Badegäste wie Einwohner wissen, dass von Zeesen aus am 7. Juli 1942 ein nationalsozialistischer Auslandssender auf Kurzwelle Muslime in der gesamten arabischen Welt, Persien, Indien und in der Türkei zum Dschihad gegen Juden aufrief.

»Achtung, Achtung! Hier ist Berlin, Königs Wusterhausen und der deutsche Kurzwellensender! Tötet die Juden, die euer Vermögen an sich gerissen haben. Araber Syriens, des Irak und Palästinas, worauf wartet ihr? Die Juden haben vor, eure Frauen zu schänden, eure Kinder umzubringen und euch zu vernichten. Tötet die Juden, ehe sie euch vernichten!«

Am Ortsrand von Zeesen, zwischen der B 178 und der August-Bebel-Straße, befinden sich heute eine Hühnerfarm, Wald, Brache und Gewerbe. Hier stand einst auf vielen Hektar »die größte und mächtigste Propaganda-Maschine der Welt«, wie der amerikanische Rundfunkexperte César Searchinger 1938 den Auslandsfunk nannte. Zeesen war seit 1929 Standort von Kurzwellensendern. »Die Gebäude beherbergten die damals leistungsstärksten Sender. 1936 waren die Anlagen zur Olympiade erneuert worden und zeichneten sich durch besondere Klangqualität aus«, weiß Rainer Suckow, gelernter Nachrichtentechniker und seit 20 Jahren Vorsitzender des Fördervereins Museum Funkerberg in Königs Wusterhausen.

Nach Nordafrika, in den Nahen Osten, die Türkei, den Iran bis nach Indien

Sechs Jahre lang, von 1939 bis 1945, funkte die rund 80-köpfige Orientredaktion des NS-Senders munter aus Zeesen nach Nordafrika, in den Nahen Osten, in die Türkei, den Iran bis nach Indien. Jeden Abend. Produziert wurde das Programm in Berlin in einem Gebäude am Kaiserdamm 77 – unweit des heutigen rbb – und mittels einer Art Telefonleitung nach Zeesen geschickt: »Mit zwei zusammengelegten Verbindungen gelang die Übertragung. Später verlegte die Post spezielle Rundfunkkabel«, sagt Suckow. Die Propaganda-Profis überließen nichts dem Zufall.

Nur wenige wissen heute, dass »Radio Zeesen« zum Dschihad gegen die Juden aufrief.

Sie verpflichteten Sprecher, die des Arabischen, Persischen und Türkischen in allen Dialekten mächtig waren – wie Younis Bahri, einen populären Moderator des irakischen Rundfunks. Zu Beginn verlasen sie Suren des Koran. Die Radiomacher garnierten das Programm mit zeitgemäßer arabischer oder persischer Musik und mit Unterhaltung nach dem Vorbild des »Volksempfängers«. Es folgten Nachrichten: »Aus dem Führerhauptquartier, 30. Oktober. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: In Nordafrika bombardierten deutsche Kampfflugzeuge einen britischen Flugplatz und Hafengebiete im Nildelta.«

Solche Neuigkeiten hörte man in den von England und Frankreich kontrollierten Gebieten in der Region gern. Die Strategie war klar: Im Weltkrieg sollten die Araber in den Kolonien von Marokko bis zum Sudan für Ärger sorgen – Sabotage, Spionage, Aufstände. Gleichzeitig würden sie das »Judenproblem« auch dort lösen helfen. Anfängliche Fehler wurden schnell korrigiert. Setzten die Nazis zu Beginn noch auf die Muster der »Weltverschwörung« und der Rassentheorie, bekamen sie rasch Rückmeldung des ihnen innig verbundenen Großmuftis von Jerusalem und SS-Mitglieds Mohammed Amin al-Husseini. Die Idee einer »minderwertigen Rasse« verfing nicht in der arabischen Welt.

Mit der NS-Ideologie in Einklang gebracht

Daraufhin studierten die verantwortlichen Redakteure unter Beratung al-Husseinis den Koran und änderten ihre Strategie. Fortan funkte der Sender judenfeindliche Suren Mohammeds und versuchte, sie mit der NS-Ideologie in Einklang zu bringen. »Man hat gesagt, dass Mohammed gegen die Juden gekämpft hat und Hitler dies heute auch tut«, erklärt Jeffrey Herf, Professor für Moderne Europäische Geschichte an der University of Maryland. Das klappte.

Der Koran enthält 114 in Reimform verfasste Suren mit vielen Versen, die Mohammed innerhalb von zwei Jahrzehnten als Offenbarung Allahs empfangen haben soll. Der Prophet wurde um 570 in Mekka geboren und starb 632 in Medina. Der Überlieferung nach habe er die erste Offenbarung in einer Höhle des Berges Hira nahe Mekka empfangen, als ihm der Erzengel Gabriel erschien. Ist der Hass auf Juden in Mohammeds Suren bereits angelegt?

Schlägt Mohammed anfänglich noch versöhnliche Töne gegenüber den Juden an, ändert sich das schnell, als er nach Medina geht und dort auch Krieg gegen sie führt. Seither wurden Juden im Einflussbereich des Islam allenfalls als »feige« und gedemütigte Zeitgenossen betrachtet. Juden galten neben Christen als »Dhimmis« – als »Schutzbefohlene«, als Menschen zweiter Klasse. Sie hatten eine »Kopfsteuer« zu entrichten, deren Auszahlung oft mit öffentlichen Demütigungen wie Schlägen einherging.

Im »Schwertvers« der Sure 9 heißt es bereits: »Dann tötet die Heiden, wo ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf.« Ab dem Jahr 624 werden Juden wie Christen zu Ungläubigen erklärt. In Vers 28 der Sure 9 sind »die Ungläubigen Schmutz«. In Vers 29 ist es bereits Pflicht, gegen sie Krieg zu führen, bis sie sich unterwerfen.

Durch den europäi­schen Judenhass des 19. Jahrhunderts noch »bereichert«

Der heutige muslimische Antisemitismus in Deutschland unterscheidet sich aber deutlich von den Botschaften Mohammeds des 7. und 8. Jahrhunderts. Man kann den Koran sicher als antijudaistisch bezeichnen. Aber nicht per se als antisemitisch. Der Judenhass, der in mancher Moschee gepredigt wird und den einige muslimische Einwanderer nach Deutschland bringen, wurde durch den europäi­schen Judenhass des 19. Jahrhunderts noch »bereichert«.

Zusammen ergibt das einen äußerst zähen Klebstoff. In die Neuzeit übersetzt, findet sich der Antijudaismus des Koran wieder, wenn wie im Sommer 2014 junge Muslime bei propalästinensischen Demonstrationen in Berlin »Jude, Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf’ allein« skandieren. Das mohammedanische Motiv der Feigheit ist darin enthalten. Auch die »Demütigungen« des Berliner »Gürtelschlägers« 2018 könnte man in diesem Lichte sehen, als ein 19-jähriger Syrer einen Israeli mit seinem Gürtel peitschte.

Der europäische Antisemitismus speist sich wiederum aus der christlichen Überlieferung, welche die Juden für den Tod von Gottes Sohn verantwortlich macht. Dazu wird die Fake News der »jüdischen Weltverschwörung« in Form der »Proto­kolle der Weisen von Zion« gestrickt. Beide Komponenten verschwammen während des Zweiten Weltkriegs zum »modernen« muslimischen Antisemitismus.

»Bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt«

So baute die palästinensische Terrororganisation Hamas 1988 in Artikel 7 ihrer Gründungscharta ein vermeintliches Mohammed-Zitat ein: Die Muslime würden die Juden töten, »bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt«. Dieser Passus enthält noch das Motiv der »Feigheit« und »Schwäche«. Der Artikel 22 der Charta verweist aber darauf, die Juden stünden hinter beiden Weltkriegen und hätten die »Bildung der Vereinten Nationen angeregt, um damit die Welt zu beherrschen«. Das trägt die antisemitische Handschrift des europäischen Judenbildes: Von einer Weltverschwörung ist im Koran keine Rede.

Der Radiosender in Zeesen habe an dieser Verschmelzung großen Anteil gehabt, meint der Politikwissenschaftler und Historiker Matthias Küntzel. Denn erst »ab den 30er-Jahren verbreitete sich der europäische Antisemitismus im gesamten arabischen Raum«. Es sei maßgeblich das Werk der Nationalsozialisten gewesen, den Judenhass eigener Prägung in den Nahen Osten zu bringen. Der Großmufti von Jerusalem, al-Husseini, war dabei das ideale Werkzeug.

Er beriet den Zeesener Sender bis zum Schluss und hielt selbst Hetzreden gegen Juden in lokalen Radiosendern. 1937 wiederum erschien in mehreren Sprachen das von den Nazis gedruckte Pamphlet »Islam – Judentum. Aufruf des Großmuftis an die islamische Welt«. In großer Stückzahl im Nahen Osten verbreitet, stellt es die erste schriftliche Verbindung aus judenfeindlichen Passagen des Koran und antisemitischen Botschaften europäischer Machart dar.

Erzfeindschaft zwischen Juden und Muslimen

Darin beruft sich der Mufti auf Mohammeds Verse und beschwört eine Art Erzfeindschaft zwischen Juden und Muslimen. Zugleich beschreibt er Juden als »große Geschäftsleute«, »Mikroben« oder Verursacher der Pest, die eine »bösartige Natur« besäßen. Das deckt sich mit antisemitischen Kernaussagen der Nationalsozialisten. Die Schrift schließt: »Gebt nicht Ruhe, bis euer Land von den Juden frei ist.« Mit fatalen Folgen. In der Hetzschrift »Unser Kampf gegen die Juden« beruft sich der ägyptische »Muslimbruder« Sayyid Qutb in den 50er-Jahren auf al-Husseini – Qutb wiederum beeinflusste nachweislich etwa Osama bin Laden.

Der Zeesener Sender erfreute sich in der arabischen Welt bald großer Beliebtheit. Man saß auf Dorfplätzen oft gemeinsam um einen Empfänger, hörte Suren, Nachrichten und tanzte zur Musik. »Selbst Araber, die dem Nazireich distanziert gegenüberstanden, ergötzten sich an dem drastischen Judenhass«, schreibt Küntzel: »Mit ihrem theologisch angepassten Antisemitismus veränderte diese Radiopropaganda das Bild vom Juden in der arabischen Welt.« Bis heute.

Auf Dorfplätzen hörte man die Suren, tanzte und ergötzte sich am drastischen Judenhass.

Im Jahr 2014 führte die amerikanische Anti-Defamation League eine Erhebung über die Langzeitfolgen des Senders durch. Sie befragte Muslime im Nahen Osten und Nordafrika, wo der Sender empfangen wurde, und in Asien, wohin Zeesen nicht funkte. Das Ergebnis war verblüffend: 75 Prozent der Befragten im Nahen Osten stimmten antisemitischen Äußerungen zu – gegenüber nur 37 Prozent in Asien. Die Aussage »Juden sind für die meisten Kriege der Welt verantwortlich« ist in dieser Erhebung für 65 Prozent der Araber »möglicherweise wahr« – und nur für 20 Prozent der Muslime in Asien.

In Zeesen ist von der nachhaltigen Propaganda-Maschine wenig übrig. 1945 baute die sowjetische Armee die Anlagen als Reparationsleistung ab und sprengte die Gebäude. Auf dem Gras, das darüber wuchs, picken die Hühner. »Ob der Auslandssender hier im Ort irgendeine Rolle gespielt hat, darüber wird nicht gesprochen«, sagt Rainer Suckow vom Förderverein Funkerberg. »Die Leute wussten: Der funkt irgendwohin, aber was, scheint keine Relevanz gehabt zu haben.«

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