Im Sommer 1944 war Ruth Klüger zwölf Jahre alt. Stundenlang musste sie während der Appelle in Auschwitz in der Sonne stehen, durstig und voller Todesangst. Was ihr dabei half, diese endlosen Stunden durchzuhalten ohne zusammenzubrechen, waren Schillers Balladen. Sie wurden Ruth Klügers »Appellgedichte«. Das innere Aufsagen der Verse half ihr, wie sie sich später erinnerte, »weil es immer eine nächste Zeile zum Aufsagen gab, statt an die Wirklichkeit zu denken«.
Wenn andere Gefangene in den Lagern Trost in Gedichtversen suchten, so vermutet Ruth Klüger, lag dies weniger am Inhalt der Gedichte, sondern an »der Form selbst, der gebundenen Sprache«, die es vermochte, Stütze zu sein. Eine Art Meditation über Ordnung und Normalität, mitten in einer aus den Fugen geratenen Welt, während der Boden in jeder Sekunde Richtung Abgrund wegzukippen drohte.
Fluchtpunkt Doch dem Mädchen Ruth Klüger bot die Lyrik auch die Möglichkeit, der Wirklichkeit nicht nur zu entfliehen, sondern ihr trotz Todesangst ins Gesicht zu sehen. In einem Gedicht von ihr heißt es: »Blick zur roten Flamme hin:/Einzig wahr ist der Kamin./ Auschwitz liegt in seiner Hand,/Alles, alles wird verbrannt.« Und ob es sich nun um Lyrik, Prosa, Musik oder Bilder handelt: Ihrer Entstehung und Verwendung nach sind Kunstwerke aus der Schoa niemals nur Kunst »an sich«.
»Kunst aus dem Holocaust. 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem« heißt die Ausstellung, die vom 26. Januar bis zum 3. April anlässlich der 50 Jahre bestehenden israelisch-deutschen diplomatischen Beziehungen im Deutschen Historischen Museum Berlin gezeigt wird. Nie zuvor waren so viele Kunstwerke aus den Archiven der Gedenkstätte außerhalb Israels zu sehen, geschweige denn in Deutschland.
Dass diese 100 Bilder jetzt ausgerechnet in Berlin gezeigt werden dürfen, ist den Bemühungen der Stiftung für Kunst und Kultur Bonn zu verdanken. Auf Initiative ihres Vorstandsmitglieds, des BILD-Herausgebers Kai Diekmann, reiste Walter Smerling, der Vorstandsvorsitzende des Vereins, im vergangenen Jahr nach Israel, um zusammen mit Yad Vashem die Bilder für die Schau auszuwählen. »Ich war sehr bewegt«, erinnert sich Smerling. »Mir sagen die Bilder: ›Du kannst mich demütigen, du kannst mich fesseln, du kannst mich einsperren, du kannst mich töten, aber eines kannst du nicht: Meine Seele haben.‹ Und diese Seele, die stellen wir aus.«
Kategorien Unter den Werken befindet sich eine Reihe von Bildern, die niemals zuvor in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Die Ausstellung umfasst Werke von mehr als 50 jüdischen Künstlern und ist in drei Kategorien eingeteilt: »Wirklichkeit«, »Porträts« sowie »Traum und Hoffnung«. Die Bilder der ersten Kategorie umfassen Darstellungen von Leben und Tod in den Lagern, entstanden also unter zweifacher Todesgefahr, da sie Zeugnisse des Mordens sind. So sprechen zum Beispiel Ben Zion Schmidts Evakuierung des Ghettos von Kowno, Josef Schlesingers Nahum Mecks Hinrichtung durch den Strang oder Marko Behars im bulgarischen Lager entstandene Zeichnung Polizeiwachposten fast für sich, bedürfen kaum einer Erklärung.
Ganz anders verhält es sich mit einer Zeichnung von Hilda Zadikow (Zadiková): Das Bild des fiebernden Kindes könnte auf den ersten Blick überall und zu jeder Zeit entstanden sein, weswegen die Künstlerin vielleicht auch vermerkt hat, wann und wo das Werk gemalt wurde – 1944 in Theresienstadt. Ähnlich verhält es sich mit anderen Werken: Das auf Packpapier angefertigte Porträt eines Mannes mit Maschinenpistole erhält erst dadurch seine besondere Bedeutung, wenn man weiß, dass der Künstler Alexander Bogen hier einen Partisanen in den Wäldern östlich von Wilna gezeichnet hat und dass diese fast fotografisch anmutende »Momentaufnahme« vielleicht das Einzige ist, was noch an den namenlosen Kämpfer erinnert.
Auch zu jenem Porträt, das Felix (Feiwel) Cytrin von seinem Kameraden Peter Edel (Hans Peter Hirschweh) anfertigte, muss man wissen, unter welchen Bedingungen es entstand: Edel und der Maler mussten in der »Fälscherwerkstatt« im Lager Sachsenhausen arbeiten. Doch Cytrin zeigt seinen Kameraden nicht so wie er damals aussah, sondern so, wie er ihn sah: gepflegt und gutaussehend. Auch ein Akt des trotzigen Widerstands gegen die Entwürdigung und Demütigung. Beide, Cytrin und Edel, haben die Lager überlebt.
Harlekin Einige der außergewöhnlichsten Werke der Ausstellung stammen von dem tschechischen Karikaturisten Pavel Fantl. Seine im Ghetto Theresienstadt angefertigte farbige Zeichnung Das Lied ist aus zeigt Hitler im Kostüm eines Harlekins im fahlen Schein einer Straßenlaterne: Hitlers Hände und die zersprungenen Saiten der Gitarre sind blutüberströmt. Pavel Fantl hat den Holocaust nicht überlebt, doch das Echo seines Lachens, so scheint es fast, schwingt im Bild mit.
Man muss kein Prophet sein, um festzustellen: »Kunst aus dem Holocaust. 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem« ist die wichtigste und unvergesslichste Ausstellung, die dieses Jahr in Berlin zu sehen sein wird. Sie ist kein Ort, »wo man gerne hingeht«, leichten Fußes und zum Zeitvertreib. Hingehen sollte man trotzdem.
»Kunst aus dem Holocaust. 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem«. 26. Januar bis 3. April im Deutschen Historischen Museum Berlin