Herr Heymann, »Mr. Gaga« ist vor zwei Wochen in den deutschen Kinos angelaufen. Wie geht es Ihnen damit?
Ich habe in den vergangenen neun Jahren so viel Energie in den Film hineingesteckt. Das Feedback darauf ist jetzt enorm.
Sie haben den israelischen Choreografen Ohad Naharin begleitet. Was hat Sie am Thema Tanz fasziniert?
Alles begann eigentlich vor 25 Jahren – lange, bevor ich überhaupt ans Filmemachen denken konnte. Ich komme aus einem kleinen Dorf zwischen Haifa und Netanya. Meine Eltern waren Bauern, und ich hatte, bevor ich nach Tel Aviv zog, noch nie eine Tanzshow gesehen. Naomi Bloch-Fortis ist eine Verwandte von mir, und sie hinterlegte ein Ticket für mich für »Kir«, eine Aufführung der Batsheva Dance Company. Ich habe zwar die Einladung mehrere Male ausgeschlagen, weil ich alle möglichen Vorstellungen – falsche Vorstellungen – über das Tanzen hatte. Zur letzten Show musste ich dann aber hin, weil Naomi es sonst persönlich genommen hätte. Und die veränderte mein Leben.
Warum?
Mir war nicht bewusst, dass Kunst mich so mitreißen könnte. »Kir«, Ohad Naharins Choreografie, hat mich einfach umgehauen. Ich war schockiert, inspiriert – alles gleichzeitig – und habe die Show insgesamt bestimmt 25-mal gesehen. Ich war plötzlich der kleine Junge, der den roten Ballon entdeckt hat. Es war einfach »wow«. Seitdem verfolge ich Ohads Schaffen. Eine Szene hat mich besonders beeinflusst. Die, in der sich zwei Mädchen sehr leidenschaftlich küssen. Für mich war es das Normalste der Welt. Ich hatte damals noch nicht mein Coming-out, und diese Szene hat es auch nicht in irgendeiner Weise beschleunigt. Aber es war Anfang der 90er-Jahre, ich kam aus einem sehr traditionellen Haus, und alles, was ich auf der Bühne sah, oder was ich auch in Tel Aviv sah, hat mir geholfen, mich weiterzuentwickeln. Meine Mission war klar: Ich musste Ohad Naharin irgendwann treffen.
Wie verlief die erste Begegnung?
Anders als erwartet, denn ich jobbte als Kellner im Tel Aviver Café »Orna and Ella«. Jeden Samstag kam ein Paar vorbei. Sie war Japanerin, er Israeli, und ich mochte sie sehr, wusste aber nicht, wer sie waren. Ich ging weiterhin zu den Vorführungen der Batsheva Dance Company und machte hinter der Bühne Aufnahmen mit meiner Kamera. Eines Abends sah ich diesen Typen aus dem Café und war überrascht. »Was machst du hier?«, fragte ich. Und er fragte zurück: »Sag mir lieber mal, was du hier machst?« So ging das eine ganze Weile hin und her, bis er sagte: »Hör mal, ich bin Ohad, und ich habe das hier inszeniert. Ich bitte dich, deine Kamera jetzt wegzulegen und niemals wieder etwas aufzunehmen.« Jahre später, als ich schon ein paar Filme gemacht hatte, die auch Ohad kannte, zum Beispiel »Paper Dolls«, holte mich der Wunsch wieder ein, einmal einen Film über ihn zu machen.
Warum wollte Ohad Naharin nicht, dass Sie filmen?
Seine Begründung war interessant und seltsam zugleich. Als ich ins Archiv der Batsheva Dance Company ging, um Material zu sichten – das ist ja das Normalste der Welt, wenn man sich auf einen Film vorbereitet –, sagte man mir, es gebe so gut wie nichts. Und das Wenige dürfte ohnehin nicht herausgegebenn werden, weil Ohad nichts archivieren wolle. Ohad sagte mir hinterher, dass ich das nicht persönlich nehmen solle, sondern verstehen müsse, was er damit ausdrücken möchte: Der ganze Zauber, weswegen er Choreograf geworden war, war, dass die Kraft des Tanzens im Vergänglichen liegt. Man könne gefühlsmäßige und intellektuelle Schlüsse aus der Bewegung ziehen, aber der Moment der Bewegung selbst sei vergangen, man könne ihn nicht einfangen. Das unterscheidet den Tanz substanziell von allen anderen Künsten. Um ein Bild zu sehen, geht man ins Museum, ein Theaterstück kann man nachlesen, Musik kann man hören. Deswegen, erklärte Ohad mir, arbeite die Dokumentation seiner eigenen Überzeugung entgegen, nämlich dass alles vergänglich sei. Es war ein großer intellektueller Konflikt.
Den man dem Film aber nicht anmerkt.
Ich wollte nicht, dass das Publikum mitbekommt, wie sehr der Regisseur »gelitten« hat. Ohad sagte, ich könne bei intimen Momenten seines Privatlebens dabei sein. Wenn ich allerdings mit meiner Kamera ins Tanzstudio käme, wenn er diese magischen und ganz ehrlichen Momente mit den Tänzern habe, sei das der intimste Moment überhaupt.
Wie sind Sie beim Filmen vorgegangen?
Ich musste mich erst durch verschiedene Archive durchwühlen, Informationen von anderen Menschen über Ohad sammeln und ihn dann damit konfrontieren. Er wäre nie selbst auf die Idee gekommen, mir davon zu erzählen. Die Szenen in der Armee zum Beispiel. Ich sagte ihm, was ich habe, und bat ihn dann, sich darüber mit mir zu unterhalten. Seine Erzählungen waren immer interessant und haben mich stets beeindruckt.
Wie hat die Arbeit an dem Film Ihre Sicht auf Ohad Naharin geändert?
Er ist einfach genial, talentiert und loyal. Er hat keine Angst, einen komplett anderen Weg zu gehen. Wer sagt schon Nein zu Martha Graham oder Maurice Béjart? Als er diesen beiden Stars der Choreografie absagte, wusste er, nichts würde auf ihn warten, denn Ohad war damals in Israel noch nicht so berühmt, wie er es heute ist. Ohad ist mutig genug, nicht dem Mainstream zu folgen.
Was sich bei dem Streik der Batsheva Dance Company zum 50. Unabhängigkeitstag Israels zeigte, als sich alle Tänzer hinter Ohad Naharin stellten.
Genau. Er ist loyal, und das wissen die Tänzer. Mir war dieses Ereignis gar nicht mehr so bewusst. Aber ich habe viele Menschen gefragt, wieso es damals Proteste gegen die Kostüme der Tänzer gab. Die Künstler machten klar, welche Kraft Kunst hat, und sagten den Auftritt ab. Heute protestiert fast keiner mehr – das ist sehr ärgerlich. Ich mag Künstler, die sagen, was sie denken.
Mit dem Regisseur des Films »Mr. Gaga« sprach Katrin Richter.
Der Trailer zum Film:
www.youtube.com/watch?v=1hhNqYrD84w