Es sind aufwühlende Zeilen. »Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein«, schrieb Walter Benjamin 1940, kurz vor seinem Freitod auf der Flucht vor den Nazis, in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte. Diese als Untertitel eingeblendete Sentenz beschließt Hito Steyerls in den späten 90er-Jahren entstandenes Kurzvideo »Normalität 2«. Es zeigt zunächst eine alltäglich anmutende Friedhofsszenerie: Man hört ein dezentes Vogelgezwitscher, eine Frau läuft kurz durch das Bild.
Die im Untertitel entfaltete Erzählung bildet jedoch einen scharfen Kontrast. Auf Statistiken zu Schändungen jüdischer Friedhöfe im Jahr 1997 folgen Berichte über den Angriff auf einen Juden in Berlin-Charlottenburg, bei dem die Polizei nicht einschritt, und über eine antisemitische Aktion auf dem Berliner Alexanderplatz. Ignatz Bubis’ Ankündigung, sich aus Angst vor Angriffen auf sein Grab in Israel beerdigen zu lassen, findet ebenso Erwähnung wie die Einstellung der erfolglosen Ermittlungen gegen die Schänder des Grabs von Heinz Galinski.
Den doppelten Sprengstoffanschlag auf die letzte Ruhestätte des einstigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin im Jahr 1998 nahm Hito Steyerl zum Ausgangspunkt für ihre zehnteilige Videoreihe. »Normalität« beleuchtet den Anstieg rechtsextremer, antisemitischer und rassistischer Gewalt im ersten Jahrzehnt nach der deutschen Wiedervereinigung.
Im ersten Kurzfilm ist der Jüdische Friedhof Heerstraße in Berlin zu sehen
Im titelgebenden ersten Kurzfilm ist zunächst der Jüdische Friedhof Heerstraße in Berlin zu sehen, auf dem Heinz Galinski 1992 begraben wurde. Der Untertitel berichtet von der ersten, keinen großen Schaden verursachenden Explosion an Galinskis Grab. »Einige Wochen später kehren die Täter zurück«, heißt es dann. In einer Nahaufnahme sehen wir den schlichten Grabstein mit den eingelassenen Lebensdaten Galinskis. Längs und quer durchzieht ihn ein tiefer Riss.
Anlass für die zehnteilige Videoreihe war der Anschlag auf das Grab von Heinz Galinski.
Bewusst rückt der Heidelberger Kunstverein mehrere Filme aus Hito Steyerls Reihe »Normalität« in die Mitte ihrer kürzlich eröffneten Einzelausstellung. Direktor Søren Grammel spricht von »Rissen«, die seit dem 7. Oktober 2023 »die linke Kulturwelt« durchzögen. Dass dies zu einem weiteren Aufstieg rechter Denkmuster und rechtsextremer Parteien führen würde, sei absehbar gewesen. Die Schau, die Grammel damals zusammen mit Steyerl, einer weltweit renommierten Künstlerin, zu konzipieren begann, reagiere auf diesen Aufstieg sowie auf die »Normalisierung rechtsextremer Politiken«.
Im Fokus steht das sich zur »Berliner Republik« wandelnde, immer wieder von rechter Gewalt erschütterte Deutschland der Nachwendezeit. »Wir waren uns schnell einig, diese alten Arbeiten wieder zu zeigen«, erinnert sich Grammel.
»Die leere Mitte« um den Potsdamer Platz
Auf diese Weise ist eine materialreiche, beklemmende Ausstellung entstanden, die einen ungeschönten Blick auf die 90er-Jahre wirft. So steht die im Kalten Krieg zum »Todesstreifen« verkommene und um die Jahrtausendwende neu bebaute Brache rund um den Potsdamer Platz im Blickpunkt des 1998 entstandenen, einstündigen Videoessays »Die leere Mitte«.
Diese Mitte sei nie leer gewesen, betont Søren Grammel: »Sie war immer voll von Politik, Ideologie und Geschichte.« Wir sehen Aufnahmen einer Führung durch die Brache, auf der einst die »Neue Reichskanzlei« der Nazis stand, deren mit Fresken versehenen Bunkeranlagen den Zweiten Weltkrieg und den anschließenden Abriss der NS-Machtzentrale überstanden hatten. Nach der Wende sei diese Mitte für die deutsche Wirtschaft und Politik »zum begehrtesten Grundstück schlechthin« geworden, so Grammel. Deren Bebauung sei nur mit Dumpinglöhnen zu stemmen gewesen.
Steyerls Film zeigt unter anderem eine Kundgebung der Gewerkschaft IG Bau, die sich teilweise gegen ausländische Bauarbeiter richtete. Steyerl blickt zudem auf die Rolle von Konzernen wie Daimler, die sich von Anfang an im »Dritten Reich« verstrickten und eine bedeutende Rolle in der NS-Rüstungsindustrie spielten. Nach der Wende konnten Konzerne wie Daimler, wie in »Die leere Mitte« zu erfahren ist, Grundstücke rund um den Potsdamer Platz zu Spottpreisen erwerben.
Aus Protest zog Steyerl 2022 ihre Arbeit von der »documenta fifteen« zurück.
Von der Kontinuität des Judenhasses handelt Steyerls ebenfalls in der Ausstellung gezeigtes Kurzvideo »Babenhausen«. Es erzählt von der jüdischen Familie Merin, die in den 50er-Jahren in die titelgebende hessische Kleinstadt zog und seitdem fortlaufend schikaniert wurde. »1993 zog der letzte hier lebende Jude in die USA«, berichtet eine Off-Stimme. Wir sehen das daraufhin niedergebrannte Haus der Merins. »Babenhausen« entfaltet eine Chronik des allzu normalen antijüdischen Schreckens.
Mit den in Heidelberg gezeigten Filmen demonstriert Hito Steyerl ihre schon früh ausgeprägte Haltung gegen Antisemitismus und Rassismus. Ihren Kompass hat Steyerl über die Jahre beibehalten: 2022 zog sie in Reaktion auf die ausgebliebene Aufarbeitung der Antisemitismus-Skandale ihre Arbeit von der Kasseler »documenta fifteen« zurück.
»Normalität« ist bis 19. Januar 2025 im Heidelberger Kunstverein zu sehen. Mehr Informationen unter: www.hdkv.de
Am 28. November um 19 Uhr spricht Dietrich Brants (SWR Kultur) in der Ausstellung »Normalität« mit der Publizistin Laura Cazés.