Die ganze Welt kondensiert in einem einzigen Tag, in einem einzigen Charakter und dem Strom aus Gedanken und Gefühlen, der durch sein Bewusstsein rinnt, direkt in das des Lesers – diesen Ansatz kennt man von James Joyces Ulysses. 2003 griff ihn Don DeLillo, spätestens seit Underworld einer der wichtigsten US-Gegenwartsautoren, auf, und beschrieb in seinem Roman Cosmopolis einen einzigen Tag eines Börsenmilliardärs aus Manhattan.
Dieses Breitwandpanorama des Finanzkapitalismus vor der großen Krise hat der Kanadier David Cronenberg jetzt verfilmt und damit einen der mit größter Spannung erwarteten Beiträge im Wettbewerb von Cannes geschaffen, der am 16. Mai beginnt. Denn wie soll man Dinge verfilmen, die sich fast ausschließlich im Kopf eines einzigen Protagonisten abspielen, der sich mit seiner Carrara-Marmor-getäfelten Stretch-Limo auf einer Odyssee durch Manhattan befindet, einen Friseur besucht und dabei auf mehreren TV-Schirmen das Welt- und Börsengeschehen verfolgt?
postmodern Cronenberg, von dem zuletzt das Freud-Jung-Drama A Dangerous Method in den Kinos zu sehen war, ist der ideale Regisseur, um sich da etwas einfallen zu lassen. Cronenberg ist wie DeLillo ein Postmodernist; er dürfte also die Assoziationsströme in Bett aus reißerisch-grellen Bildern gießen. Zudem ist DeLillos Vorlage vor allem ein Dekadenzportrait, eine apokalyptische Reise ins Herz der Finsternis unserer Gegenwart: Ein Börsencrash kommt vor, die universale Gier, 9/11 sowieso, der Cyberspace und viel, viel Geld. Motto: »Nur Ratten zahlen!« Die Hauptrolle spielt Twilight-Star Robert Pattison.
Vertrauteres Gelände betritt erwartungsgemäß Wes Anderson, dessen Film Moonrise Kingdom die Filmfestspiele und den Wettbewerb um die Goldene Palme am Mittwoch eröffnet. Andersons Filme wirken immer wie bewegte Puppenstuben. Ausstattung und quietschbunte Farben sind hier alles, die Schauspieler dagegen reduziert auf eher ausdruckslose, puppenhafte Gesichter mit großen Augen.
Zu Tilda Swintons Schauspielstil scheint das gut zu passen; gespannter ist man darauf, wi ein Bruce Willis, weiterhin der amtierende Actionkönig des amerikanischen Kinos, die Herausforderung eines Independent-Films meistert. Die Story dreht sich um zwei jugendliche Ausreißer und die Gesellschaft, die sie versucht wieder einzufangen. Die Filme des in Texas aufgewachsenen, seit Jahrzehnten in New York lebenden Anderson, der aus einer Rabbinerfamilie stammt, könnten auch als Familienauf stellungen in Bildern beschrieben werden. Sie sind Zeitreisen, juvenile, immer ein wenig pubertäre Fantasien und zugleich Traumabewältigungen.
kult Das alles ließe sich auch über das Werk von Woody Allen sagen, üblicherweise ein Stammgast im Wettbewerb von Cannes. Sein neuester Film, To Rome with Love, bei dem es sich um eine moderne Version von Bocaccios Liebesreigen Decamerone handeln soll, ist aber bereits vor zwei Wochen in Italien angelaufen, wo der Film auch produziert wurde – damit ist er, trotz Stars wie Penelope Cruz, Roberto Benigni und Alec Baldwin, nicht wettbewerbsfähig. Trotzdem fehlt der witzigste Regisseur des amerikanischen Kinos nicht an der palmengesäumten Croisette. Woody Allen: A Documentary heißt Robert B. Weides Dokumentarfilm über Persönlichkeit und Schaffen des Kultregisseurs, der im Rahmen der Spezialreihe »Cannes Classics« präsentiert wird.
»Was Sie schon immer über Woody Allen wissen wollten«, trompetet das Marketing. Da der Filmemacher mit diesem Projekt allerdings kooperiert hat und an der Côte d’Azur sogar für Interviews zur Verfügung steht, darf man keine großen Enthüllungen oder Tabuverletzungen erwarten, vermutlich auch keinen »allenesken« Humor bei der Betrachtung seiner Hauptfigur. Wenn der Film, für den der Regisseur den als überaus scheu geltenden Allen zwei Jahre lang begleitete, hält, was er verspricht – »große Offenheit ... lässt den Zuschauer teilhaben an seinem Leben und seiner künstlerischen Arbeit« –, dann wäre schon viel gewonnen und ein kurzweiliges Kinoerlebnis sicher, gesäumt von viel Archivmaterial und Ausschnitte aus Allens Komödien.
Auch in den vier Nebenreihen des Festivals, das bis zum 27. Mai läuft, sind mehrere Filme jüdischer Regisseure vertreten. Der einzige Beitrag aus Israel läuft in der renommierten Sektion »Quinzaine«: Meni Yaeshs God’s Neighbours erzählt episodisch vom Leben einer Jugendbande in der südlich von Tel Aviv gelegenen Stadt Bat Yam.