Porträt

Kreuzberg statt Hollywood

»Das schwierigste Projekt, an dem ich je gearbeitet habe und wohl je arbeiten werde«: Yair Elazar Glotman (32) Foto: Maximilian Koenig Fotografie

Mitten in Kreuzberg, versteckt in einem Hinterhof, wartet ein Künstler-Loft auf die Gentrifizierung, die aus einem Ort der Musik- und Filmgeschichte wohl weitere Luxusapartments machen wird, die kein Berliner braucht.

Hier arbeitet seit ein paar Jahren Yair Elazar Glotman in einem kleinen, aufwendig und eigenhändig perfekt isolierten Tonstudio. Der 32-jährige Israeli gehört zu einer Gruppe internationaler Komponisten, die gerade dabei sind, die Filmmusik zu revolutionieren.

Oscar Und das mit großem Erfolg. Glotman teilt sich das Loft unter anderem mit Hildur Guðnadóttir, die im vergangenen März als erste Frau den Oscar für die beste Filmmusik gewonnen hat – für den düsteren Soundtrack zu Joker, in dem auch Glotman zu hören ist.

Von Coltrane bis Bach, von The Doors bis Metallica, Glotman wollte alles hören.

Bis zu seinem tragischen Tod vor knapp zweieinhalb Jahren hat in diesem Loft auch das isländische Komponisten-Wunderkind Jóhann Jóhannsson Klangwelten geschmiedet, die Musik im Film zum ebenbürtigen Element erhoben haben, so eigenständig und prägend wie die Figuren, die Kameraführung, die Geschichte selbst. Die wohl eindrucksvollsten Beispiele dafür sind Sicario (2015) und Arrival (2016).

ERBE Es war Jóhannsson, der Glotman zur Filmmusik brachte und der dem jungen Musiker ein tonnenschweres Erbe hinterließ, das Glotman beeindruckend souverän geschultert hat: die Fertigstellung der Filmmusik für Jóhannssons ersten und letzten eigenen Film Last and First Men, der zurzeit in den Kinos läuft, eine Meditation aus Bildern und Tönen, vom menschlichen Schaffen und dessen Ende.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Natürlich habe er gezögert, sagt der im Norden Tel Avivs aufgewachsene Glotman. Aber er habe sich auch verantwortlich gefühlt. »Ich wusste, wie wichtig es für Jóhanns Familie war, dass das Projekt beendet würde. Ich war der Letzte, der mit ihm daran gearbeitet hat. Wir haben viel darüber gesprochen, wie es werden sollte. Ich wollte sicherstellen, dass Jóhanns Gefühle respektiert würden.«

Stimme Dabei habe er sich aber auch erlauben müssen, dass seine eigene Stimme hörbar sein würde, dass er nicht versuchen würde, jemand anderes zu sein. »Das war definitiv das schwierigste Projekt, an dem ich je gearbeitet habe und wohl je arbeiten werde.«

Der klassische Kontrabass war ihm irgendwann zu einseitig.

Glotmans Weg in das kleine Tonstudio in Kreuzberg führte über das berühmte Kunstgymnasium Talma Yalin bei Tel Aviv. Nachdem Glotman im Alter von fünf Jahren die Jazz- und Rockplatten seines Vaters und die Aufnahmen klassischer Musik seiner Mutter für sich entdeckt hatte, gab es kein Halten mehr.

Von Coltrane bis Bach, von The Doors bis Metallica, Glotman wollte alles hören, machte Mixtapes mit Aufnahmen aus dem Radio. Mit acht Jahren begann er, klassische Gitarre zu spielen, verliebte sich bald in die Bassgitarre, aus der ein Kontrabass wurde – »wegen des Jazz«. Und den beherrschte Glotman bald so gut, dass es nach der Talma Yalin zur Jerusalem Academy ging, wo er auch im Young Israel Philharmonic Orchestra spielte.

Kontrabass Doch Glotman wollte mehr. Während er sein Spiel perfektionierte, entdeckte er die elektronische Musik, studierte zusätzlich Medienkunst und erkannte schließlich, dass ihm der klassische Kontrabass zu einseitig war.

»Ich habe eingesehen, dass mir diese besondere, die nur auf das Eine zugespitzte Leidenschaft fehlte, um mein Leben lang nur das zu machen. In der klassischen Musik muss man eine Art Tunnelblick haben. Aber ich habe mich immer wieder nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten umgesehen.«
Dann kamen die Sommerferien 2008, als Glotman seinen Großonkel in Berlin besuchte. Am Ende der Ferien rief er seine Eltern an und sagte, dass er bleiben würde.

»Sie waren etwas überrascht, haben mich dann aber sehr unterstützt«, sagt er. »Ich hatte so ein eigenartiges Bauchgefühl, dass ich in Berlin sein muss. Alles war so offen und elastisch, eine Stadt im dauernden Wandel. Das wollte ich mir genauer ansehen.«

Szene Und er tauchte tief ein in die Berliner Szene der elektronischen Musik, studierte an der Universität der Künste Berlin (UdK), komponierte, schrieb Alben, kreierte Musik-Installationen, setzte sich so intensiv mit dem Kontrabass auseinander, dass er das hart Erlernte »entlernte«, um wieder von den musikalischen Möglichkeiten des Instruments überrascht werden zu können.

»Ich sehe das, was ich tue, als langen Weg, auf dem es nicht um ein bestimmtes Ziel, sondern eben den Weg selbst geht. Und wenn dir der Weg genauso wichtig ist wie das Ziel, bist du viel offener dafür, nicht den geraden Weg einzuschlagen.«

GEFÜHL 2017 kam die Anfrage von Jóhannsson, der ein Solo-Kontrabass-Album von Glotman gehört hatte, ob der ihn bei einer Komposition unterstützen wolle. »Ich war gar nicht an Filmmusik interessiert, aber dann traf ich Jóhann, der die Musik zutiefst liebte und einfach alles darüber wusste. Wir haben uns auf Anhieb verstanden. Plötzlich begriff ich, dass alles, was ich gelernt hatte – von der klassischen Musik über die Installationen bis zur elektronischen Komposition und Produktion –, zusammengehörte und einen Werkzeugkasten für Filmmusik ergab.« Die schreibt und spielt er seitdem.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Warum eigentlich unbedingt Musik? »Weil ich nichts anderes kann«, sagt Glotman und lacht. »Das Abstrakte des Klangs hat für mich etwas sehr Befreiendes. Ich habe das Gefühl, mich damit viel präziser ausdrücken zu können, als ich es mit Worten könnte. Es geht um verschiedene Ebenen des Filterns, Gedanken und Worte gehen durch eine Art Übersetzungsebene, während Musik früher ansetzt und deshalb näher dran ist am Gefühl selbst, ohne es in eine Bedeutung zu übersetzen.«

Pandemie Just vor Beginn der Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie hat Glotman gerade seine eigene Komposition für den Horrorthriller False Positive mit Pierce Brosnan und Ilana Glazer abgeschlossen. Eigentlich hätte er im April in Los Angeles sein sollen, um einen Agenten zu treffen und neue Projekte anzustoßen. Das ist nun aufgeschoben. Er arbeitet weiter, sagt Glotmann, recherchiert und entdeckt Neues.

Und außerdem müssen seine Kollegen und er ja auch noch ein neues Studio finden, in dem sie ihre Arbeit an der Filmmusik der Zukunft fortsetzen können.

Haushaltslage im Land Berlin

Topographie des Terrors befürchtet Programmeinschränkungen

Stiftungsdirektorin Andrea Riedle sieht vor allem die Bildungsarbeit gefährdet

 26.12.2024

Rezension

Fortsetzung eines politischen Tagebuchs

In seinem neuen Buch setzt sich Saul Friedländer für die Zweistaatenlösung ein – eine Vision für die Zeit nach dem 7. Oktober ist allerdings nur wenig greifbar

von Till Schmidt  26.12.2024

Medien

Antisemitische Aggression belastet jüdische Journalisten

JJJ-Vorsitzender Lorenz Beckhardt fordert differenzierte und solidarische Berichterstattung über Jüdinnen und Juden

 26.12.2024

Rezension

Ich-Erzählerin mit böser Wunde

Warum Monika Marons schmaler Band »Die Katze« auch von Verbitterung zeugt

von Katrin Diehl  25.12.2024

Bräuche

»Hauptsache Pferd und Kuh«

Wladimir Kaminer über seine neue Sendung, skurrile Traditionen in Europa und einen Kontinent in der Krise

von Nicole Dreyfus  25.12.2024

Dessau

»Was bleibt«

Am Anhaltinischen Theater setzt Carolin Millner die Geschichte der Familie Cohn in Szene – das Stück wird Anfang Januar erneut gespielt

von Joachim Lange  25.12.2024

Kolumne

Aus der Schule des anarchischen Humors in Minsk

»Nackte Kanone« und »Kukly«: Was mich gegen die Vergötzung von Macht und Machthabern immunisierte

von Eugen El  24.12.2024

Rezension

Die Schönheit von David, Josef, Ruth und Esther

Ein Sammelband bietet Einblicke in die queere jüdische Subkultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik

von Sabine Schereck  24.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 19. Dezember bis zum 2. Januar

 23.12.2024