Als die zehnjährige Cordelia mit schwerem Scharlach im Jüdischen Krankenhaus in Berlin liegt, wird das katholisch aufgezogene Mädchen vom Anblick einer etwas Älteren getröstet. Die gehört der zionistischen Jugendbewegung an, wird oft von ihren Kameradinnen besucht, sodass plötzlich begeisterte Rufe und Scherze durch das Krankenzimmer dringen, die fröhlichen Laute eines stolzen Hebräisch.
Fünf Jahre später ist sie wieder an diesem Ort, der sich nun in eine Art Vorhölle verwandelt hat: Gestapoleute mit Deportationslisten, verängstigte Menschen jeglichen Alters und einige junge Frauen, die sich den zu Kollaborateuren gewordenen Ärzten hingeben, in der irrwitzigen Hoffnung, vom »Transport« verschont zu werden.
Cordelia Edvardsons Buch Gebranntes Kind sucht das Feuer ist, wie Daniel Kehlmann in seinem einfühlsamen Nachwort schreibt, tatsächlich »eine furchtbare Lektüre«. Was aber lediglich das furchtbare Geschehen betrifft, in welches das Mädchen Cordelia wie in einen Strudel hineingezogen wird – nicht aber den bewundernswert kristallinen Stil, mit dem die Journalistin und Schriftstellerin Edvardson das Damalige wieder heraufbeschwört, erinnert und reflektiert. Das Buch, 1984 im schwedischen Original erschienen, war in der deutschen Übersetzung lange vergriffen und ist nun endlich wieder erhältlich – elf Jahre nach dem Tod Cordelia Edvardsons in Stockholm.
»Uneheliche« Tochter eines jüdischen Juristen
Geboren wurde sie 1929 in München als »uneheliche« Tochter eines jüdischen Juristen, der sich alsbald verdrückte, und der damals berühmten christlichen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die wegen ihres jüdischen Vaters nach dem Machtantritt der Nazis als »Halbjüdin« galt.
Die Mutter hatte offizielles Publikationsverbot, hielt sich mit anonymen Annoncetexten über Wasser, lehrte die Tochter deutsche Märchen und Reime, während der loyal zur Familie stehende Stiefvater seinen Zorn über die Nazis mitunter auf das Kind umleitete und zuschlug. Seelisches Tohuwabohu von Kindheit und früher Pubertät, durch die politischen Umstände ins Entsetzliche verzerrt. Aber der Ton des Berichts bleibt ruhig, verweigert sich den lyrischen Oh-Mensch-Oh-Gott-Ach-Jesus-Anrufungen der mystifizierenden Schriftstellermutter und schreckt auch nicht vor der Beschreibung dessen zurück, was bereits vor dem »Transport« geschehen war.
Elisabeth Langgässer hatte nämlich, um ihre Tochter zu retten, eine spanische Adoptivfamilie ausfindig gemacht, die dem Mädchen einen spanischen Pass beschaffte. Die Gestapo aber forderte bei einer Vorladung, dass das Kind die doppelte Staatsbürgerschaft behalte und so »freiwillig in einen eventuell künftigen Abtransport in den Osten« einwillige.
Andernfalls würde ihre Mutter wegen »Hochverrats« angeklagt. »Die Tochter blickte unsicher zu ihrer Mutter hinüber und begegnete einer weißen Maske, in der ein viel zu roter Mund wie eine Wunde leuchtete. Von der Mutter konnte sie sich in diesem Moment keine Unterstützung erwarten, verstand das Mädchen … Niemand sagte etwas, nichts musste gesagt werden, es gab keine Wahl, es hatte nie eine Wahl gegeben.«
Die Mutter tröstete sich damit, dass Cordelia im »Transport« vorläufig »nur« nach Theresienstadt kam
Während sich die Mutter danach tröstete, dass Cordelia im »Transport« vorläufig schließlich »nur« nach Theresienstadt gekommen sei, merkte das Mädchen dort, dass die mütterliche Mitgift aus deutschen Gedichten und Herz-Jesu-Sprüchen erschreckend schnell aufgebraucht war. Im Lager begegnete sie Marek und Halinka, zwei jungen Liebenden, die sich geschworen hatten, einander nie zu verlassen.
Als Cordelia nach Auschwitz deportiert wurde, sah sie dort auf dem Zementboden einer Baracke die weinende Halinka. Bei der Ankunft im Lager war sie von ihrem Marek getrennt worden. »Am nächsten Morgen war die Baracke leer, säuberlich gefegt, als wäre nie jemand dort gewesen. Hier endet die Spur von Marek und Halinka.«
Cordelia aber – mit der Unterarm-Tätowierung »A 3709« – überlebte. Neben Josef Mengele musste sie an der Rampe die Nummern der selektierten Menschen in ein Schreibheft eintragen, musste lernen, von sich selbst und ihrer individuellen Geschichte abzusehen und quasi in der dritten Person zu existieren. »Das Mädchen sah und registrierte, stumm, ohne Zorn, Schmerz oder Verwunderung. Es ging sie nichts an. Es drang nicht in sie hinein, dafür war kein Platz, sie war vom großen grauen Nichts erfüllt.« Und fand schließlich dennoch – nach der »Evakuierung«, nach den Todesmärschen und der Befreiung – die Kraft, in ihrer Erinnerung auch die ausgelöschten Leben und das entsetzliche Leid der anderen zu bergen.
Und das im sich bis heute neutral dünkenden und oft »unparteiisch«-empathielosen Schweden. Dorthin kam die inzwischen 16-Jährige im Frühjahr 1945 und traf auf mehr oder minder verständnisvoll schweigende Menschen. Inklusive zweier Ehemänner und Väter ihrer Kinder, derer sie auf äußerst faire Weise gedenkt.
Ein Akt keineswegs selbstverständlicher Großherzigkeit
Ihre Mutter, die nach dem Krieg einen Roman über Auschwitz schreiben wollte und ihre Tochter schriftlich um nützliche Informationen über den »Alltag dort« bat, hat sie nur ein einziges Mal wiedergesehen – und erwähnte es nicht in ihrem Buch, auch das ein Akt keineswegs selbstverständlicher Großherzigkeit.
Als 1973 der Jom-Kippur-Krieg ausbrach, reiste Cordelia Edvardson nach Israel – »die drohende Vernichtung und die Menschen des Landes sahen einander vertraut in die Augen«. Aus Jerusalem arbeitete sie dann bis ins Jahr 2006 als Korrespondentin für das »Svenska Dagbladet«.
Eine deutsche Auswahl ihrer journalistischen Israel-Texte ist noch antiquarisch erhältlich, unauffindbar hingegen ihr Kinderbuch, dessen idyllisch anmutender Titel gerade in diesen Tagen und Wochen stocken lässt: Miriam lebt im Kibbuz. Cordelia Edvardsons Autobiografie aber endet mit diesen Zeilen, ebenfalls aktueller denn je: »Der Kreislauf unseres Todes und unserer Auferstehung in verschiedenen Formen und Gestalten, und noch können wir sagen: ›Am Israel Chai – das Volk Israel lebt.‹«
Cordelia Edvardson: »Gebranntes Kind sucht das Feuer«. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Hanser, München 2023, 142 S., 22 €