Der 50. Deutsche Historikertag, der Ende September in Göttingen stattfand, behandelte das Thema »Gewinner und Verlierer«. Mit 3000 Teilnehmern und über 100 Referenten aus mehr als 20 Ländern gilt er als die größte geisteswissenschaftliche Veranstaltung Europas. Podien zur Wirtschafts-, Migrations- oder Sexualgeschichte bewiesen, dass sich Geschichte heute nicht mehr in erster Linie mit Chronologie und Ereignissen sondern mit allen Themen der Vergangenheit beschäftigt. Darunter auch mit speziell jüdischen Fragestellungen.
Zum Thema »Gewinner und Verlierer in Wirtschaftskrisen der Neuzeit (16.–19. Jahrhundert)« fand eine vierstündige Sektion statt, in deren Rahmen Dominik Collet aus Heidelberg über die durch Missernten bedingten Hungerkrisen im 18. Jahrhundert und die in diesem Zusammenhang entstehende Polemik gegen »Kornjuden« sprach. Cornelia Aust (Mainz) referierte über den Aufstieg jüdischer Bankiers in Polen während der Napoleonischen Kriege.
Dieser wurde begünstigt durch den Zusammenbruch des polnischen Bankwesens während der Finanzkrise von 1793 und durch die Belieferung und Finanzierung auch miteinander verfeindeter Armeen während der Ostfeldzüge Napoleons. Daraus resultierte später der Vorwurf in der polnischen Öffentlichkeit, jüdische Bankiers hätten sich »unpatriotisch« verhalten – ungeachtet der Tatsache, dass, bis auf England, alle europäischen Staaten zeitweise Bündnisse mit Napoleon eingegangen waren.
Akademikerinnen »Vom Verlust als Erfolg erzählen: Erfahrungen und Wahrnehmungen jüdischer Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert« war eine mehrstündige Sektion überschrieben, in der Christine von Oertzen (Berlin) über »Doppelte Verliererinnen? Ausgewanderte Akademikerinnen und die Generalisierung des Scheiterns« sprach und mit biografischen Belegen der landläufigen Ansicht entgegentrat, jüdische Akademikerinnen wären nach der Flucht aus Nazideutschland in ihren Aufnahmeländern grundsätzlich gescheitert.
Dank der Aktivitäten der britischen und amerikanischen Gesellschaften für weibliche Wissenschaftler konnten viele von ihnen, wenn auch oft erst nach einiger Zeit und der Überwindung diverser Schwierigkeiten, in den akademischen Betrieb ihrer Länder integriert werden.
Hochinteressant war der Vortrag von Anna Menny (Hamburg) über die Wahrnehmung der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 als unverzichtbarer Bestandteil der Nationwerdung Spaniens und damit als »Gewinn« für das Land. Erst in jüngster Zeit habe sich diese Ansicht vorsichtig gewandelt. Heute gebe es auch Stimmen in Spanien, die den jüdischen Anteil an der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes vor der Vertreibung anerkennen und würdigen.
Anerkennung Christian Scholl sprach über »Gewinner und Verlierer im jüdischen Geldhandel des späten Mittelalters«. Er relativierte den zeitgenössischen Vorwurf des »Wuchers« und wies auf die Bedeutung der Geld- und Kreditversorgung durch jüdische Akteure für die wirtschaftliche Entwicklung vor allem der Städte hin.
Am Schlusstag referierte der junge polnische Historiker Jerzy Masur (Nantes) über »Jewish Migrations to Italy and Poland in the 14th and 15th Centuries«. Er beschrieb die jüdischen Migrationsbewegungen nach der Vertreibung der Juden aus England und referierte über die »Condotta Ashkenaz« aus dem Jahr 1387 in Pavia sowie über das »Privileg von Lviv« von 1356. In beiden Fällen standen die Anerkennung als Bürger der aufnehmenden Städte und die rechtliche Gleichstellung mit Einheimischen im Mittelpunkt der Motivation für die Migration, weniger Verfolgung oder Bedrängung in den Herkunftsregionen.
Überleben Im Rahmen des schon wiederholt stattfindenden Schülerprogramms hielt Nick Stargardt von der Universität Oxford einen viel beachteten Vortrag über »Versteckte Kinder. Überleben im Holocaust«. Das Doktorandenforum ist ein bewährtes Instrument zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Erstmals veranstaltete es in diesem Jahr ein äußerst kurzweiliges »History Slam«, bei dem Doktoranden in einem fünfminütigen Vortrag oder einer kurzen Präsentation ihre Forschungsarbeiten vorstellten.
Zu den Themen zählten unter anderem »Vergangenheitsbewältigung im Vergleich. Deutsche und französische Schulbuchdarstellungen zu den Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung auf Judenverfolgung und Völkermord (1970–2013)« oder »Stigma ›jüdisch versippt‹. In Mischehe verfolgte Familien 1933–1949« sowie »Holocaust Oral History in America«.
Im kulturellen Rahmenprogramm führten Studenten der Geschichtswissenschaft, die im Rahmen eines Projektseminars dazu ausgebildet worden waren, zum Thema »Jüdisches Leben in Göttingen« durch die Stadt. An anderen Tagen wurden Exkursionen zu den Gedenkstätten KZ Mittelbau-Dora oder nach Moringen angeboten.
Dort befand sich zwischen 1933 und 1938 das erste Frauen-KZ. Ab 1940 wurde in Moringen das einzige NS-Konzentrationslager für männliche Jugendliche eingerichtet, die rassisch, religiös oder politisch verfolgt wurden. Ab 1941 war das Jugend-KZ zudem Forschungsfeld des Kriminalbiologischen Instituts. Nachdenklich stimmt, dass sich auf demselben Gelände heute das Maßregelvollzugszentrum Niedersachen, eine Fachklinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie, befindet.