Im Herbst 1957 ging ein ungewöhnliches Foto des israelischen Premierministers David Ben-Gurion um die Welt: Es zeigte den 71-jährigen Staatsgründer in Badehose am Strand von Herzliyah – auf dem Kopf stehend. Ben-Gurions Ehefrau Pola fand das Verhalten ihres Mannes peinlich und unangemessen. »Soll er doch damit zum Zirkus gehen«, giftete sie, »dort wird er vielleicht mehr Geld verdienen als bisher!« Verantwortlich für Ben-Gurions ungewöhnliche Freizeitbetätigung war ein Mann, den sie abschätzig »Mr. Hokuspokus« nannte: der Tel Aviver Bewegungslehrer Dr. Moshé Feldenkrais.
Das Foto des kopfstehenden Ben-Gurion ist nicht nur zu einer israelischen Ikone geworden, sondern hat auch dazu beigetragen, dass die nach Feldenkrais benannte Lehre seitdem mit der Ausübung von Kopfständen in Verbindung gebracht wird, als sei sie eine Art israelisches Yoga. Doch Feldenkrais brachte dem notorisch unsportlichen Ben-Gurion den Kopfstand nur deswegen bei, weil dieser seit seiner Kindheit davon geträumt hatte, auf dem Kopf stehen zu können. Hätte er davon geträumt, endlich freihändig Fahrrad fahren oder auf einem Seil balancieren zu können, hätte ihm sein Lehrer eben diese Kunststücke beigebracht.
einheit Dass Ben-Gurion sich zwar zutraute, den ersten jüdischen Staat nach 2.000 Jahren Exil zu gründen, doch nicht glauben wollte, dass er in der Lage sei, einen Kopfstand durchzuführen, scheint paradox. Die Erklärung liegt wohl darin, dass Ben-Gurion seinem Willen und seinem Verstand alles, doch dem eigenen Körper nur wenig zutraute. Feldenkrais lehrte Ben-Gurion, dass er ein falsches Bild vom eigenen Körper besitzt. Dass er viel mehr kann, als er glaubt. Dass Geist und Körper eine untrennbare Einheit bilden. Und dass er lernen muss, warum er sich auf welche Weise bewegt, damit er die Möglichkeit bekommt, sich zu bewegen, wie er es will.
Feldenkrais brachte Ben-Gurion auch bei, sich von den lähmenden Rückenschmerzen zu befreien, die ihn seit seiner Kindheit gequält und 1956 zeitweise ans Bett gefesselt hatten. Da Ben-Gurion von seinem Lehrer begeistert war, schickte er auch Moshe Dayan, Nachum Goldmann und Shimon Peres zu Feldenkrais. Auch dem unter chronischen Rückenschmerzen leidenden John F. Kennedy empfahl Ben-Gurion dringend, bei Moshé Unterricht zu nehmen. Doch Kennedy fehlte wohl der Glaube an sich selbst. Er lehnte ab.
Moshé Pinchas Feldenkrais wurde 1904 in der kleinen ukrainischen Stadt Slavutah geboren. Im Sommer 1918 beschloss er, nach Eretz Israel auszuwandern. Ohne Eltern und Geschwister, mit einer Handvoll Geld und einem geladenen Revolver. Dem Heranwachsenden schlossen sich auf der Reise immer mehr junge Juden an.
judo Als Moshé im Frühjahr 1919 endlich in Palästina ankam, war seine Gruppe auf 200 Leute angewachsen. Moshe und viele seiner Freunde schufteten als Bauarbeiter in Tel Aviv. Und sie wurden Mitglieder der jüdischen Selbstverteidigungsorganisation Haganah. Dort lernte Moshé Jiu-Jitsu und lieferte sich Straßenkämpfe mit arabischen Angreifern. Anfang der 30er-Jahre ging Feldenkrais nach Paris, um Physik zu studieren. Dort lernte er den Begründer des Judo, den Japaner Jigoro Kano, kennen. Zu Kanos Verblüffung konnte der junge Moshé ihm einen eigenständig entwickelten Jiu-Jitsu-Trick bei- bringen. Feldenkrais wurde Mitbegründer der Judo-Bewegung in Frankreich.
Im englischen Exil verschlimmerte sich eine Knieverletzung, die sich Feldenkrais in Tel Aviv beim Fußballspielen zugezogen hatte. Obwohl die Ärzte ihm prophezeiten, dass er ohne Operation nie wieder normal würde laufen können, verweigerte sich Moshé einem Eingriff. Im Selbststudium versuchte er zu verstehen, wie der menschliche Bewegungsapparat funktioniert, und zum Erstaunen der Ärzte lernte er schließlich wieder schmerzfrei zu gehen. Noch wichtiger: Feldenkrais lernte zu lernen.
Er begriff, dass die Plastizität des menschlichen Gehirns ein ungeahntes Potenzial zur individuellen Entwicklung birgt. Moshés Ausspruch »Mich interessieren nicht bewegliche Körper, sondern bewegliche Gehirne«, deutet an, dass es ihm nie um gymnastische Übungen ging. Er wollte die Bewusstheit der Menschen fördern. »In der Feldenkrais-Methode«, so Moshés Schülerin Anna Triebel Thome, »nimmt man die Bewegung als Mittel, um für sich selbst zu lernen. Diese Erweiterung von Möglichkeiten – darum geht es eigentlich in der Feldenkrais-Arbeit. Wo Sie das dann anwenden, ist ganz Ihnen überlassen. Es ist Arbeit am Bewusstsein.«
gehirn In den noch immer weitgehend unbekannten Weiten des Gehirns war Moshé Feldenkrais als grenzenlos neugieriger Pfadfinder unterwegs. Erst heute beginnt die Hirnforschung, einige jener neurologischen Phänomene allmählich zu begreifen, die Feldenkrais bereits vor Jahrzehnten instinktiv in seiner Arbeit mit Patienten nutzte. »Feldenkrais hat erkannt«, so der Neurologe Gerald Hüther, »dass, wenn man in einem Bereich etwas neu macht, das zu der Erfahrung führt: Es geht! Es geht anders! Dass man dann stärker bereit ist, sich auf neue Muster einzulassen. Nicht nur Bewegungsmuster, das können auch neue Interaktionsmuster sein, mit anderen Menschen. Das können neue Muster sein, mit denen man sich selbst in der Welt erfährt.«
Und wenn man nicht an Bewusstheit, sondern nur am Verschwinden quälender Schmerzen interessiert ist, ist das ebenfalls in Ordnung. Auch der Schriftsteller Yoram Kaniuk wurde durch Feldenkrais-Lektionen seine Rückenschmerzen los. »Der Unterricht war zwar furchtbar langweilig«, erzählt Kaniuk, »aber er hat wunderbar geholfen.«