Tagung

Konzentrische Erinnerung

Der Duden trifft eine klare Entscheidung: Dem Wörterbuch der deutschen Sprache zufolge bedeutet gedenken, »an etwas ehrend, anerkennend und in einer bestimmten Situation zurückdenken, sich an dessen Existenz erinnern«. Das Erinnern selbst hingegen wird nüchtern als das bloße Faktum definiert, dass man etwas im Gedächtnis bewahrt hat, statt es zu vergessen. Und als Mahnung, wie etwa bei einer »Zahlungserinnerung«, bei einer offenen Rechnung.

Doch wie viel mehr schwingt in diesen beiden Verben mit, vor allem, wenn es um die deutsch-jüdische Geschichte geht! Den Bedeutungshorizont dieser beiden problematischen Wörter zu ermessen, ihren historisch sich permanent verändernden Sinn zu beschreiben und die vielen politischen Motive und Konsequenzen, die mit unterschiedlichen Gedenk- und Erinnerungskulturen verknüpft sind, zu analysieren – das war das Ziel der dreitägigen Konferenz »Geteilte Erinnerung.

Gedenken in der deutschen Gesellschaft – Erinnern in der jüdischen Gemeinschaft«, die die Bildungsabteilung des Zentralrats in der vergangenen Woche in Frankfurt veranstaltete.

Eröffnet wurde die Konferenz am vergangenen Mittwoch mit einem Festakt im Kaisersaal des Frankfurter Römer. Oberbürgermeister Peter Feldmann begrüßte die zahlreich erschienenen Gäste, darunter Zentralratspräsident Josef Schuster und Vizepräsident Mark Dainow.

Schuster bekannte in seiner Rede, dass er »ein Fan von Gedenkveranstaltungen« sei, weil sie die Möglichkeit des Innehaltens inmitten von Alltagsgeschäften und politischem Betrieb bieten. »Das kulturelle Gedächtnis braucht Rituale, Mahnmale, Jahrestage, wiederkehrende Bilder und auch sprachliche Floskeln, um sich zu bilden, zu bewahren und zu entwickeln«, zitierte Schuster den Autor Navid Kermani.

rituale Wie immer hatten die beiden Verantwortlichen, Sabena Donath als Leiterin und Doron Kiesel als wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, ein anspruchsvolles und vielseitiges Tagungsprogramm zusammengestellt.

Dabei bewegten sich die Vorträge, Lesungen und Diskussionen, so unterschiedlich sie vordergründig erschienen, wie in konzentrischen Kreisen um ein gemeinsames Zentrum: um die Frage, wie vor allem innerhalb der jüdischen Gemeinschaft adäquate, alle unterschiedlichen Gruppen mit einbeziehende Formen des Gedenkens an die Schoa gefunden werden können.

Denn die Definition, dass »Gedenken« ein öffentliches, auf ein festgelegtes Datum beschränktes Ritual sei, während »Erinnern«, wie Kiesel in seiner Rede im Römer ausführte, per se als »jüdisches Handeln« zu gelten habe, als eine Einstellung oder Haltung, die die Geschichte des eigenen Volks und Gottes Eingreifen in dieselbe wachhält, erfasst nicht alle Facetten.

Gorelik Unterricht Das wurde vor allem in dem sehr offen geführten Gespräch deutlich, das Sabena Donath mit der Schriftstellerin Lena Gorelik führte. Gorelik, geboren 1981 in Sankt Petersburg, kam mit elf Jahren als »Kontingentflüchtling« nach Deutschland.

Erst hier, im Schulunterricht, erfuhr sie von dem Mord an sechs Millionen Juden während der Schoa: »Ich kam als Sieger nach Deutschland – und plötzlich war ich Opfer«, beschreibt sie die Erschütterung, die dieses Wissen bei ihr auslöste. »Fortan begann ich alles, was ich nur finden konnte, über den Holocaust zu lesen; ich war wie besessen von dem Thema«, erinnert sie sich.

Aber während für Sabena Donath als »Alteingesessene« im Land der Täter die Schoa identitätsstiftend war, lehnt Gorelik dies kategorisch für sich ab: »Jeder, wenn er nur ein menschliches Herz besitzt, kann ermessen, welcher Verrat an der Menschlichkeit mit dem Mord an sechs Millionen Juden begangen wurde. Dass sich das niemals wiederholen darf, haben wir alle gespeichert, unabhängig davon, ob wir Juden sind oder nicht, und auch nicht nur an einem Tag und indem wir Kränze niederlegen.«

Schoa Auch der Soziologe Natan Sznaider arbeitete in seinem brillanten Vortrag die Differenz zwischen einer »jüdisch-diasporischen« und einer »israelisch-souveränen« Reaktion auf die Erfahrung der Schoa heraus.

Während Zionisten und Gründer des israelischen Nationalstaats das »Nie wieder!« um den Zusatz »wir« ergänzten und sich demzufolge ihre Solidarität und ihr Mitgefühl ausschließlich auf das eigene Kollektiv konzentrierte, dessen Sicherheit zu wahren zur obersten Staatsräson erklärt wurde, werden in jüdischer Perspektive die eigenen leidvollen Erfahrungen zur Begründung einer universellen humanitären Ethik, ganz so, wie es in der Tora heißt: »Ihr wisst doch selbst, wie einem Fremden zumute ist.« Im offiziellen israelischen Sprachgebrauch gelten Flüchtlinge als »Infiltranten«.

Allein dieses Beispiel veranschauliche die »Macht der Erinnerung und ihren Einfluss auf eine Gemeinschaft«, sagte Sznaider. Dass gleichzeitig so unterschiedliche Beschreibungen und Deutungen der einen Wirklichkeit nebeneinander existierten, sei das, was eine moderne Gesellschaft ausmache, so Sznaider weiter: »In dieser Hinsicht ist Israel wesentlich moderner als die Bundesrepublik.«

zusammenführung Diesem Konzept stellte Doron Kiesel seine Gedanken gegenüber, wie sich jüdisches Erinnern und deutsches Gedenken zusammenführen ließen. In der Tora werde das Wort »erinnern« 169-mal gebraucht: »Dem Volk Israel wird eingeschärft, nicht zu vergessen, sondern sich der Geschichte und des eigenen Leidens und Überlebens als Minderheit permanent bewusst zu sein«, so Kiesel.

Insofern bedeute Erinnern immer auch Trauern: »Die deutsche Mehrheitsgesellschaft ist dann anschlussfähig, wenn sie sich darauf schmerzlich einlässt«, betonte Kiesel.

Ein treffendes Resümee der Tagung zog der Geschäftsführer des Zentralrats, Daniel Botmann. Er wies darauf hin, dass die jüdische Gemeinschaft durch die Zuwanderung gelernt hat, dass es auch unterschiedliches Erinnern geben kann, das auch nebeneinander stehen und sich ergänzen kann. »Weder muss es eine eindeutige Antwort darauf geben, wer wir sind, noch darauf, was das Erinnern sein müsse«, so Botmann.

»Immer aber sollten wir darüber reden. Wir Juden untereinander. Alte und Junge. Zuwanderer und Alteingesessene. Gedenkkultur ist kein abgeschlossener Prozess. Gedenkkultur ist auch nichts Statisches, sondern im besten Fall ein Prozess fortlaufender kritischer Reflexion.«

Antisemitismus

Gert Rosenthal: »Würde nicht mit Kippa durch Neukölln laufen«

Die Bedrohung durch Antisemitismus belastet viele Jüdinnen und Juden. Auch Gert Rosenthal sieht die Situation kritisch - und erläutert, welche Rolle sein Vater, der Entertainer Hans Rosenthal, heute spielen würde

 01.04.2025

Berlin

Hans Rosenthal entdeckte Show-Ideen in Fabriken

Zum 100. Geburtstag des jüdischen Entertainers erzählen seine Kinder über die Pläne, die er vor seinem Tod noch hatte. Ein »Dalli Dalli«-Nachfolger lag schon in der Schublade

von Christof Bock  01.04.2025

Künstliches Comeback

Deutschlandfunk lässt Hans Rosenthal wiederaufleben

Der Moderator ist bereits 1987 verstorben, doch nun soll seine Stimme wieder im Radio erklingen – dank KI

 01.04.2025

Interview

Günther Jauch: »Hans Rosenthal war ein Idol meiner Kindheit«

Der TV-Moderator über den legendären jüdischen Showmaster und seinen eigenen Auftritt bei »Dalli Dalli« vor 42 Jahren

von Michael Thaidigsmann  01.04.2025

Jubiläum

Immer auf dem Sprung

Der Mann flitzte förmlich zu schmissigen Big-Band-Klängen auf die Bühne. »Tempo ist unsere Devise«, so Hans Rosenthal bei der Premiere von »Dalli Dalli«. Das TV-Ratespiel bleibt nicht sein einziges Vermächtnis

von Joachim Heinz  01.04.2025

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  01.04.2025

Geschichte

»Der ist auch a Jid«

Vor 54 Jahren lief Hans Rosenthals »Dalli Dalli« zum ersten Mal im Fernsehen. Unser Autor erinnert sich daran, wie wichtig die Sendung für die junge Bundesrepublik und deutsche Juden war

von Lorenz S. Beckhardt  01.04.2025 Aktualisiert

Hans Rosenthal

»Zunächst wurde er von den Deutschen verfolgt - dann bejubelt«

Er überlebte den Holocaust als versteckter Jude, als Quizmaster liebte ihn Deutschland: Hans Rosenthal. Seine Kinder sprechen über sein Vermächtnis und die Erinnerung an ihren Vater

von Katharina Zeckau  01.04.2025

TV-Spielfilm

ARD dreht prominent besetztes Dokudrama zu Nürnberger Prozessen

Nazi-Kriegsverbrecher und Holocaust-Überlebende in einem weltbewegenden Prozess: Zum 80. Jahrestag dreht die ARD ein Drama über die Nürnberger Prozesse - aus der Sicht zweier junger Überlebender

 01.04.2025