Pünktlich zum Benefizkonzert am Sonntagvormittag sind sie zurück. Und das, obwohl die acht Mitarbeiter der Oper zuvor mit vier Lieferwagen über 20 Stunden unterwegs waren zur ukrainischen Grenze und zurück, eine Nacht fehlt ihnen. Der Geiger Daniel Draganov hat den Konvoi innerhalb einer Woche organisiert, er saß auch selbst am Steuer. Für ihn ist diese Reise eine ganz besondere.
Draganovs jüdische Vorfahren sind zum großen Teil in diesen Gebieten ermordet worden. Sie haben im Ghetto von Lodz gelitten, sie wurden in die Vernichtungslager deportiert. Das Schicksal seiner Großeltern erschüttert. Der junge Prager Medizinstudent Paul hatte gerade seine Freundin Vera geheiratet, als die Katastrophe für die beiden begann. Gemeinsam haben sie das Ghetto Lodz überlebt, wurden nach Auschwitz deportiert.
todesmärsche »Dann ist meine Großmutter nach Bergen-Belsen auf einen der Todesmärsche und mein Großvater ist nach Mauthausen gekommen, wo er befreit wurde, vor meiner Großmutter«, so Draganov. Zurück in Prag, hat Paul Vera gesucht. Bis Vera kam, die Paul dann gar nicht mehr erkannt hat, weil sie so ausgezehrt und krank war. Aber sie hat es überstanden. »Meine Mutter war das erste jüdische Kind, das in Prag nach dem Krieg geboren wurde«, erzählt Draganov. Sein Vater spielte im NDR-Sinfonieorchester. Großvater Paul unterstützte Daniel beim Kauf der Geige.
Er erzählte den Enkeln aber auch vom Grauen der Vernichtungslager. Er nahm Daniel mit in Joshua Sobols Theaterstück Ghetto und in den Film Schindlers Liste. Da hatten zum Schluss alle Tränen in den Augen außer Daniels Großeltern. Sie hatten Schlimmeres erlebt. Dennoch: Großvater Paul behandelte auch Patienten mit SS-Runen. Er sei Arzt und dem Heilen verpflichtet, bei jedem Menschen. Er starb 2005. Ein Jahr später kam sein Urenkel Paul zur Welt.
Daniel Draganov fühlt sich der Versöhnung so verpflichtet wie sein Großvater. Auch deshalb engagiert er sich für die Menschen in der Ukraine. Die Lagerhalle in Chelm war überfüllt, in Lublin konnten sie in einem umgebauten Logistikzentrum ihre Kinderwagen und Medikamente, ihre Decken und Nahrungsmittel ausladen. Dort merkten sie, dass alle Helferinnen und Helfer mit den gelben Westen aus der Ukraine stammten.
transporte Die Gesichter seien gezeichnet. »Die funktionieren einfach, die arbeiten, sitzen an einem langen Tisch, 20 junge Personen mit Laptops und Handys, und organisieren die Transporte. Ein Lkw nach dem anderen kommt an und lädt auf. Aber die Augen sprechen Bände.«
Draganovs Traum: Irgendwann wieder ganz selbstverständlich in der Oper in Kiew oder Lwiw zu spielen.
Draganov und seine Mitstreiter haben die Lkws nach offiziellen Bedarfslisten bepackt, ukrainische Fahrer mit einer Spezialerlaubnis haben an der Grenze die Ware übernommen und verteilen sie in der Ukraine, auch die Zielorte werden in der großen Halle organisiert.
Sehr viele junge Frauen sitzen an den Computern, ein Junge hat beim Entladen geholfen, erzählt Draganov, »er müsste im Alter meines Sohnes sein, vielleicht 16 Jahre alt. Er hat eine Kiste nach der anderen geschleppt, kein Wort gesprochen, hatte einen ganz leeren Blick. Man traut sich auch nicht, die Menschen anzusprechen. Man hat das Gefühl, in dem Moment, wenn sie antworten, würden sie wahrscheinlich zusammenbrechen. Die funktionieren für ihr Land, für ihre Familien. Die haben gefragt: Wer seid ihr mit den vier voll beladenen Transportern? Als wir dann gesagt haben: ›Aus der Deutschen Oper Berlin‹, konnten sie es kaum glauben. Sie waren unglaublich dankbar. Das zerreißt einem das Herz«.
geste Es sei vor allem die Geste, »dass wir sie nicht alleinlassen«. Draganov ist wichtig, dass sich Geschichte aus dem letzten Jahrhundert nicht wiederholt. »Damals ist niemand in Europa aufgestanden, und jetzt sind es die ganz normalen Menschen, die aufstehen und helfen.«
Draganovs Traum: Irgendwann wieder ganz selbstverständlich in der Oper in Kiew oder Lwiw zu spielen, aber jetzt heißt es erst einmal: dranbleiben, weitermachen. »Bei jedem Hilfsprojekt ist es immer so: Es gibt am Anfang die große Welle der Hilfsbereitschaft, und die flacht irgendwann ab, das darf jetzt nicht passieren. Wenn man einmal auf diesem Zug sitzt, muss man sitzen bleiben. Wir werden uns strukturieren, und es wird weitergehen!«