Frau Donath, Herr Kiesel, am 3. September 2021 begann mit dem feierlichen Spatenstich der Bau der Jüdischen Akademie in Frankfurt am Main. Wie weit sind die Bauarbeiten?
Doron Kiesel: Für den Neubau werden derzeit Bodenaushebearbeiten durchgeführt. Bei dem angrenzenden Altbau, einer ehemaligen Professorenvilla der Universität, stehen Vermessung, Renovierung und Kernsanierung an.
Welche Schritte auf dem Weg zur Jüdischen Akademie sind als Nächstes geplant?
Sabena Donath: Während der Bau fortschreitet, bauen wir von innen die Struktur der Jüdischen Akademie auf. Das ist unser Auftrag. Wir entwickeln eine Corporate Identity und eine Kommunikationsstrategie nach außen. Das konzeptionelle innere und äußere Erscheinungsbild wird sich im Laufe dieses Jahres zeigen.
Doron Kiesel: Wir machen uns natürlich auch Gedanken über die personelle Ausstattung der künftigen Akademie. Dieses Haus muss bespielt werden, es muss eine Vielfalt an Angeboten für jüdische und nichtjüdische Gäste zur Verfügung stellen. Dafür braucht man Personal: Studienleiter, Bildungsreferenten und weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Das Jahr 2021 war maßgeblich von der Pandemie geprägt. Konnten Sie die geplanten Tagungen und Konferenzen umsetzen?
Sabena Donath: Wir mussten zwar einige Veranstaltungen verschieben, aber sie werden nachgeholt. Dadurch, dass wir gute Bedingungen haben – entweder in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt oder in anderen großen Räumlichkeiten –, war es uns möglich, unter strengeren Bedingungen mehrere unserer Präsenzveranstaltungen zwischen Frühjahr und Spätherbst durchzuführen. Wir sind sehr froh, dass wir die Kontinuität halten konnten. Und es freut uns wahrzunehmen, dass uns unser Stamm an Teilnehmenden, den wir über Jahre aufgebaut haben, treu geblieben ist.
Doron Kiesel: Hier macht sich auch wohlwollend die Kooperation mit dem Jüdischen Museum bemerkbar. Wir konnten dort zwei größere Tagungen als Streaming-Formate ohne Zuschauer vor Ort durchführen. So haben wir etwa die Ausstellung, die sich mit den Erfahrungen der überlebenden Juden zwischen 1945 und 1948 befasst hat, mit einer Konferenz umfassend vertieft.
Welche Rolle spielen digitale Formate?
Sabena Donath: Wir haben nicht alles in den digitalen Raum verlegt, denn unsere Arbeit ist sehr auf Interaktion angewiesen. Das hat auch mit der kleinen jüdischen Gemeinschaft zu tun, in der wir uns bewegen. Vielmehr haben wir extra neue digitale Formate wie »Wissenschaft zuhause/Mada ba-bayit« oder »Jüdischer Salon« entwickelt. Einiges davon wird zweifellos die pandemische Zeit überdauern.
Doron Kiesel: Unsere Schwesterinstitution, die Hochschule für jüdische Studien Heidelberg, möchte das Kooperationsprojekt »Wissenschaft zuhause/Mada ba-bayit« weiterführen, weil sie gemerkt hat, dass sie dadurch viel stärker wahrgenommen wird. Es ist eine Win-win-Situation für beide jüdische Einrichtungen.
Sind weitere Kooperationen geplant?
Doron Kiesel: Wir stehen kurz davor, einen Kooperationsvertrag mit der Universität Frankfurt abzuschließen, der es ermöglichen wird, gemeinsam wissenschaftliche Projekte durchzuführen, Drittmittel zu beantragen und Studierende zu begleiten. Diese gemeinsame Perspektive verspricht eine hervorragende Möglichkeit, Interessen an Forschungsprojekten zu bündeln und umzusetzen.
Was bedeutet diese Vereinbarung?
Doron Kiesel: Der Bau und der Name Jüdische Akademie löst Erwartungen aus. Das Interesse, mit uns zu kooperieren, ist schon jetzt sehr groß, und es wird noch wachsen. Die Kooperation mit der Goethe-Universität ist insofern ein Baustein auf dem Weg zur Akademie.
Welche Themenschwerpunkte setzen Sie 2022, und wie spiegeln sie sich im Programm wider?
Doron Kiesel: Im Januar hat die Tagung »Displaced« das jüdische Leben nach der Befreiung thematisiert. Das ist unser historisches Erbe, welches wir weiterverfolgen und begleiten werden. Wir werden zudem das Verhältnis von Staat und Religion aufgreifen: Welchen Status haben wir als jüdische Minderheit in Anbetracht der uns grundgesetzlich zugestandenen Religionsfreiheit? Was bedeutet es für jüdische Schüler, wenn an Jom Kippur eine Klausur ansteht? Was bedeutet es, wenn man Fleisch auch in Deutschland schächten möchte, anstatt es zu importieren? Die Klärung vieler solcher Fragen liegt uns sehr am Herzen. Zu der dazu geplanten Konferenz »Autonomie und Gesetz« werden unter anderem Zentralratspräsident Josef Schuster und Bundesjustizminister Marco Buschmann erwartet.
Sabena Donath: Neben spezifischen Themen, die wir als relevant für die jüdische Gemeinschaft und das Verhältnis zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft erachten, wollen wir ganz explizit über Handlungsoptionen im Umgang mit Antisemitismus in verschiedenen Sozialräumen nachdenken – etwa in der Jugendkultur oder im Fußball. Eltern und Lehrer klagen darüber, dass Jugendliche antisemitische Inhalte konsumieren, aber es gibt keine Antworten darauf, weil niemand die Chiffren und Bedeutungszusammenhänge kennt.
Welche Schwerpunkte setzen Sie noch?
Sabena Donath: Darüber hinaus gibt es Themen, die sich mit jüdischen Diskursen und Blickwinkeln beschäftigen. Wir möchten einen Schritt zurückgehen und würden gern aus einer innerjüdischen Perspektive über das Thema »Dritte Generation« sprechen. Dazu bieten wir eine Tagung an. Es geht dort um die sogenannte Enkelkindgeneration, um Spuren, Migrationserfahrungen und Narrative, die so plural sind wie die jüdische Gemeinschaft.
Können Sie auch spontan auf aktuelle Entwicklungen reagieren?
Doron Kiesel: Es gibt immer Themen, die von außen an uns herangetragen werden, weil sie den aktuellen Diskurs prägen. Im Moment ist es die Frage nach der angemessenen Form des Gedenkens an Kolonialverbrechen und der Vergleichbarkeit der jeweiligen Genozide. Das werden wir sicherlich auch aufgreifen. Wir werden immer stärker dazu kommen, schneller und spontaner planen zu können.
Wie begleiten Sie das im Aufbau befindliche Militärrabbinat?
Doron Kiesel: Wir werden uns infolge der Entscheidung der Bundesregierung und des Zentralrats der Juden, ein Militärrabbinat einzurichten, an der Bildung und Ausbildung der Militärrabbiner und der Rabbinatshelfer beteiligen. Die Vermittlung interkultureller, interreligiöser, aber in erster Linie jüdischer Bildungsperspektiven und religiöser Traditionen ist notwendig, um die Integration jüdischer Soldatinnen und Soldaten in ihren Einheiten zu unterstützen.
Wie entstehen die Themen Ihrer Konferenzen – fließen beispielsweise die Feedbacks und Wünsche der Tagungsteilnehmer in Ihre Arbeit ein?
Sabena Donath: Wir evaluieren unsere Konferenzen und versuchen, die darin geäußerten relevanten Anregungen und Vorschläge aufzugreifen. Das ist für uns elementar, insbesondere bezüglich des Umgangs mit ambivalenten und komplexen Themen – aber auch im Hinblick auf eine möglichst reibungslose Organisation.
Doron Kiesel: Wir beide sind Antennen. Wir nehmen Schwingungen auf und verarbeiten sie. Es ist eine Palette von Möglichkeiten, wie Themen entstehen. Wir sprachen mit Kolleginnen und Kollegen und verfolgen den wissenschaftlichen und politischen Diskurs. Wir nehmen zudem Wünsche der jüdischen Institutionen auf, die uns ihre Interessen mitteilen und um Unterstützung in Anbetracht unterschiedlicher Herausforderungen bitten.
Wie möchten Sie auf das Jahr 2022 zurückblicken?
Sabena Donath: Ich fände es schön, wenn wir dieses Jahr den Grundstein für die Jüdische Akademie legen – in jeder Beziehung.
Doron Kiesel: Ich fände es äußerst motivierend, wenn die Kontinuität und die neuen Perspektiven unserer Arbeit erkennbar werden und wenn sich mit uns gemeinsam viele Menschen auf die Jüdische Akademie freuen.
Mit den Direktoren der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland sprach Eugen El.