Micha Brumlik ist Mitbegründer eines erneuerten liberalen Reformjudentums. Dennoch sitzt er im Wohnzimmer von Uri Gamson, Rabbiner von Chabad Lubawitsch und Leiter der orthodoxen Jeschiwa Gedolah Berlin, vor sich auf dem Tisch ein dickes Buch mit schlichtem weißem Einband. Die beiden treffen sich nicht zum ersten Mal. Sie kennen sich seit Jahren vom Gemeindetag des Zentralrats und diversen Veranstaltungen. Brumlik sei in Chabad-Kreisen »gefürchtet«, sagt Gamson schmunzelnd, denn er sei für seine kenntnisreiche Kritik der Bewegung bekannt.
Auf den ersten Blick also eine ungewöhnliche Begegnung. Doch das Gespräch der beiden an diesem Morgen dreht sich um ein Thema, das beide fesselt, gleichwohl aus unterschiedlichen Gründen: das Buch Tanja. Brumlik hat Gamson ab Mitte Januar zu einem akademischen Lektürekurs ins Zentrum für Jüdische Studien nach Berlin-Mitte eingeladen. Gamson sagte sofort zu.
Mystik Das Buch Tanja erschien erstmals 1797. Das späte Hauptwerk der jüdischen Mystik von Rabbi Schneor Salman von Ljadi spiegelt nicht nur chassidisches Lebensgefühl in napoleonischer Zeit, sondern ist bis heute Herzstück der Chabad-Bewegung.
Die Lebenswelten der beiden Gesprächspartner könnten unterschiedlicher nicht sein. Genau darin jedoch liegt für beide der Reiz: Themen und Thesen des Buches einem interessierten Publikum vorzustellen und ihre Aktualität für jüdisches Leben heute offen zu diskutieren – der eine persönlich von innen, der andere mit kritisch-wissenschaftlichem Blick von außen.
Dabei ist die Diskussion zwischen dem Pädagogen und Publizisten und dem Rabbi weitaus mehr als ein Dialog zwischen moderner Philosophie und orthodoxem Judentum. Sie bietet auch die Möglichkeit, herauszufinden, welche gemeinsamen Werte beide verbinden – trotz aller Differenzen. »Das war für mich sehr verlockend, denn unser Verständnis von jüdischer Theologie unterscheidet sich grundlegend«, so Brumlik. Für Gamson sei der Dialog auch eine Möglichkeit, sich selbst herauszufordern – mit einem anderen Blick auf das, was er als »Herzstück seines Glaubens« ansehe.
Heiligkeit »Anders als für den Rabbi ist Tanja für mich kein heiliges Buch, sondern vielmehr jüdische Geschichte und Religionsphilosophie«, so Brumlik. Das hänge davon ab, wie man Heiligkeit definiere, wirft Gamson ein. Heiligkeit sehe er als Begegnung des Menschen mit sich selbst. In diesem Punkt glaubt der Rabbiner Werte zu entdecken, die der Professor möglicherweise teilen kann.
»Ich bin sicher, wir haben viel mehr gemeinsam, als wir denken«, sagt Uri Gamson. Die Diskussion kommt schnell in Fahrt – ein erster Vorgeschmack auf den bevorstehenden Lektürekurs. Denn Micha Brumlik ist da schon skeptischer. So sei ein wichtiger Punkt auf seiner Kurs-Agenda die Unterscheidung, die das Buch Tanja zwischen jüdischen und nichtjüdischen Seelen mache und die manche Kritiker für rassistisch halten. »So weit würde ich zwar nicht gehen, aber es ist ein empfindlicher Punkt, über den wir diskutieren werden – ebenso wie über die Frage, ob Männer und Frauen laut Tanja zu unterscheidende Seelen sind«, so Brumlik.
Der Rabbi ist für alle Fragen offen. »Wer aufhört, anderen zuzuhören, weil sie nicht ins eigene Weltbild passen, begrenzt sich selbst«, ist seine Überzeugung. Auch sie fußt auf dem Buch Tanja.
Wurzeln Dessen Philosophie fasst Gamson überraschend unkonventionell als »Kommunismus der Spiritualität« zusammen: Jeder Mensch sei gleich in seiner spirituellen Wurzel. Vor allem das Konzept des »Beinoni«, die Figur des Durchschnittsmenschen, liefere dabei viele »psychologische Antworten«.
Antworten auf seine Fragen erhofft sich auch Micha Brumlik. Wie aktuell ist das Buch wirklich? Warum klammerte Gershom Scholem es aus seinen Studien zur jüdischen Mystik aus? Sind die Vorurteile gegen Chabad Lubawitschs Theologie gerechtfertigt oder nicht?
Die Relevanz des chassidischen Grundlagenbuches ist für Gamson unbestritten. Die Tanja-Ideen könnten jedes Leben bereichern, meint der Rabbiner. »Wer ist jeder?«, hakt Brumlik sofort nach. »Jeder Jude oder jeder Mensch?« Gamson lacht. Dann sagt er nachdrücklich: »Wenn ich sage ›jeder‹, dann meine ich wirklich: jeder.«
Nächste Termine: Lektürekurs Rabbi Schneor Salman von Ljadi: »Das Buch Tanja«: 21.–28.1. sowie 4. und 11.2. jeweils 16-18 Uhr
www.zentrum-juedische-studien.de