Dass Theodor Fontane nicht nur selbst antisemitische Ressentiments geäußert hat, sondern dass auch seine literarischen Werke von judenfeindlichen Impulsen keineswegs frei sind, wird immer noch, auch nach dem »Fontane-Jahr«, das gerade zu Ende gegangen ist und vor Veranstaltungen und Publikationen überquoll, weitgehend, ja geradezu systematisch ignoriert oder heruntergespielt.
Um als Beispiele hier nur die drei kompetentesten Biografien zu nennen, so verdienstvoll jede in anderer Hinsicht sein mag: Regina Dieterle huscht auf vier von 800 Seiten schamvoll daran vorbei. Iwan-Michelangelo D’Aprile desgleichen, er sagt kein Wort über Antisemitisches in literarischen Werken Fontanes und versieht dessen »Alters-Antisemitismus« mit einem verharmlosenden Fragezeichen. Genau das macht auch Hans Dieter Zimmermann, spricht verklemmt von einem »komischen Antisemitismus« in Fontanes Briefen und erklärt die Romane für »frei davon«. Das aber ist nach dem Stand der Forschung, spätestens seit Michael Fleischers Buch »Kommen Sie, Cohn«. Fontane und die »Judenfrage«, wissenschaftlich unwahr und intellektuell unredlich.
IMPULSE Denn diese antisemitischen Impulse sind keine bedauerlichen Ausrutscher, sondern häufen sich gerade in den Jahren und Werken, in denen der Autor auf den Höhepunkt seiner Kunst gelangte. Mehr noch: Wie er diese Impulse literarisch umgesetzt hat, auch daran zeigt sich seine meisterhafte Erzählkunst als eine Kunst der »Finessen«, das heißt, der Indirektheit, der Anspielung, des Versteckspiels. In seinen Erzählwerken lassen sich, im Unterschied zu Gedichten, antisemitische Impulse allerdings niemals als direkte Meinungskundgebungen des Autors, vielmehr immer nur indirekt an der Darstellung jüdischer Figuren und an Äußerungen von Figuren über Juden beobachten. (Antisemitisch nenne ich solche Impulse, die einer negativen Einstellung gegenüber »den« Juden entspringen.)
Fontane war ein virtuoser Erzähler – umso ärgerlicher die giftigen antisemitischen Impulse.
Vier verschiedene Beobachtungsfelder lassen sich hier unterscheiden. Das erste: Sehr oft werden Juden und Meinungen über sie lediglich als Bestandteile der Gesellschaft dargestellt, und das mehr oder weniger neutral, vorsichtiger gesagt: in der Bewertung unbestimmt. Fontane-Apologeten, und das ist das Gros der Fontane-Forscher, möchten den Blick allein auf dieses relativ harmlose Feld beschränken.
Sehr interessant für Fontanes Erzählkunst insgesamt ist ein zweites Feld, das sich mit dem ersten überschneidet: Nicht selten werden antisemitische Urteile von Romanfiguren so vorgeführt, dass diese sich selbst entlarven und die Leser Anlass haben, sich davon zu distanzieren. Fontanes Werke sind also, infolge seiner Kunst der Redevielfalt, gelegentlich weiser als ihr antisemitischer Autor. Ein paar Beispiele: Melanie redet über jüdische Namen (L’Adultera), Käthe redet über Frau Salinger, Naschsucht und »Erbsünde« (Irrungen, Wirrungen), die Holks reden über den Tierarzt Lissauer und seine unstatthaften Vergleiche (Unwiederbringlich), Leo redet über schwarze Jüdinnen und schwarzafrikanische Halsabschneider: »Das tun sie hier auch« – nämlich die jüdischen Wucherer (Die Poggenpuhls), Güldenklee redet abfällig über Lessings Nathan und dessen Ringparabel als »Judengeschichte« (Effi Briest).
Ein drittes, leider nur ganz schmales Beobachtungsfeld: Sehr selten, dafür umso beachtlicher ist die einfühlsame Darstellung von jüdischen Figuren, die trotz Taufe und erfolgreicher Integration unter antisemitischer Diskriminierung leiden, so wie etwa van der Straaten in L’Adultera.
Das vierte, peinlichste, darum bisher am wenigsten oder gar nicht beachtete Beobachtungsfeld ist das, auf dem der Autor eigene antisemitische Impulse in seine literarische Darstellung eingelagert hat. Allein auf dieses möchte ich mich hier, im Gegenzug zu fortgesetzter Verharmlosung seitens der meisten Fontane-Forscher, konzentrieren, und zwar an konkreten Beispielen: zwei Gedichten und zwei Romanen.
LYRIK In Fontanes später Lyrik mischen sich manchmal Altersweisheit und Antisemitismus auf bedrückende Weise. Das schlimmste dieser Gedichte, das frühestens 1895 entstanden ist, also in der Zeit der großen Spätwerke, trägt in den Werkausgaben den sonderbaren Titel »Entschuldigung«. Um es zu verstehen, muss man wissen, was Dietz Bering in seinem bewundernswerten Buch Der Name als Stigma nachgewiesen hat: wie jüdische Namen, zum Beispiel Cohn oder Itzig, ihre Träger stigmatisieren sollten. Hier taucht der Name Meyerheim auf, ein sozusagen doppelt jüdischer Name; Fontane kannte Träger dieses Namens: die Malerfamilie, Bankiers, vielleicht auch eine bekannte Bühnenfigur im populären Theater der Gebrüder Herrnfeld.
Dort heißt es: »Die Meyerheims – man verstehe mich recht –,/ Die Meyerheims sind ein Weltgeschlecht,/ Sie sitzen im Süden, sie sitzen im Norden,/ Ums Goldne Kalb sie tanzen und morden,/ Name, gleichgültig, ist Rauch und Schall!/ Wohl, wohl, der ›Meyerheim‹ sitzt überall.«
In der Tat ein sonderbarer Gedichttitel: »Entschuldigung«! Denn der Inhalt ist ja das Gegenteil: eine Beschuldigung. Ich erlaube mir darum einen Konjekturvorschlag, indem ich von einer fehlerhaften Entzifferung der Handschrift Fontanes durch seinen Sohn Friedrich ausgehe, der das Gedicht 1933 im »Ruppiner Stürmer«, einem SA-Organ, erstmals veröffentlichte: Vermutlich hat Fontane selbst nicht »Entschuldigung«, sondern »Entschlüsselung« geschrieben. Da Antisemitismus ein »kultureller Code« (Shulamit Volkov) ist, konnte das auch in Gestalt augenzwinkernder Geheimsprache sein: »Ich sage zwar verschlüsselnd Meyerheim oder Rothschild, aber man versteht wohl, wen ich damit eigentlich meine. Hier meine Entschlüsselung.«
Unter Fontanes großen Romanen enthält der reifste und weiseste, »Der Stechlin«, leider auch die meisten antisemitischen Impulse.
Die Meyerheims – der Meyerheim – der Jude: Dies ist demagogischer Kollektivsingular, der individuelle »Name gleichgültig«. »Der Jude« – so las man es damals schon in der konservativ-antisemitischen »Kreuzzeitung«, deren treuer Leser auch Fontane war und blieb. Sie sitzen, er sitzt: Sie haben sich eingenistet, wie Ungeziefer, das sich verbreitet. »Weltgeschlecht«: Sie haben sich über die ganze Welt verbreitet, und zwar mit dem Ziel der Weltherrschaft. Denn: »Ums goldne Kalb sie tanzen und morden«. Das ist der Mythos einer jüdischen Weltverschwörung durch Geldmacht und Verbrechen, wie ihn wenige Jahre später dann auch die Protokolle der Weisen von Zion, die berüchtigte, verhängnisvolle Fälschung und antisemitische Hetzschrift, verbreitet haben. Das Tanzen und Morden aber ist schlimmste demagogische Verdrehung der Bibel.
Also kann der Mordvorwurf nur die stumpfsinnige Reproduktion einer Hauptlüge des christlichen Antisemitismus sein: Juden als Christus-, Gottes-, Ritualmörder. Diese letzte Diffamierung hatte Fontane schon in seiner Ballade »Die Jüdin« (1852) reproduziert. Er kannte auch den Weltverschwörungsmythos gut: Als er bei der »Kreuzzeitung« arbeitete, war sein Kollege dort Hermann Goedsche, der viele erfolgreiche antisemitische Trivialromane schrieb, darunter Biarritz (1868) mit dem Kapitel »Der Judenfriedhof in Prag«, einer poetischen Fiktion, die aber in die Protokolle der Weisen von Zion als Tatsachenbericht eingegangen ist.
ROMANE Unter Fontanes großen Romanen enthält der reifste und weiseste, Der Stechlin, leider auch die meisten antisemitischen Impulse, aber so, dass sie mit besonderer erzählerischer Raffinesse vorgebracht werden: eben den »Finessen« – allerdings oft so indirekt und versteckt, dass ihr Auffinden eine gute Leseschulung voraussetzt. Ich hebe vier dieser fragwürdigen Finessen hervor.
1. Die jüdischen Nebenfiguren bilden hier eine verblüffend stimmige Serie, die genau das historische Spektrum des Antisemitismus symbolisiert: antikapitalistisch (Baruch und Isidor Hirschfeld), antiliberal (Katzenstein), antisozialistisch (Isidor, Dr. Moscheles). 2. Es gibt Randfiguren, die nur darum auftauchen, weil sie einen antisemitischen Impuls verkörpern. Der aber wird jeweils dezent versteckt: hinter den antisemitischen Einstellungen von Figuren. 3. Fällt einmal eine anti-antisemitische Äußerung, dann bezeichnenderweise aus dem Munde einer negativ bewerteten Figur: Als Dubslav von Stechlin beim alten Baruch den jüdischen »Pferdefuß« herauskommen sieht, wendet der unsympathische Kirchenmann Koseleger – für uns vollkommen zutreffend – ein: Das habe doch weniger mit der Rasse als mit dem Beruf zu tun. 4. Leerstellen im Text, an denen dieser etwas offenlässt, jedoch nicht beliebig: Füllt man sie richtig, das heißt wie ihr Kontext und Fontanes Erzählregie die Füllung festlegen, so wird ein antisemitischer Impuls erkennbar.
GLEICHSTELLUNG Fontane kritisierte schon seit 1881 die gesellschaftliche Tendenz zur Gleichstellung der Juden und damit die ganze liberale Tradition seit 1871 (Gleichstellungsgesetz). Eine Anerkennung der Juden als »dritte Konfession« lehnte er ganz klar ab, genau wie im »Berliner Antisemitismusstreit« Heinrich von Treitschke gegen Moritz Lazarus. Dieser hatte – auch für heutige Demokraten völlig überzeugend – erklärt, die wahre Kultur liege in der Mannigfaltigkeit und Juden seien als Staatsbürger genauso Deutsche wie Christen. »Jede Nationalität umfasst heute mehrere Religionen, wie jede Religion mehrere Nationalitäten.«
Dagegen polemisierte Treitschke, der Wortführer eines akademischen, nationalliberalen Antisemitismus: Die Deutschen seien unzweifelhaft »ein christliches Volk«, das Judentum dagegen die Religion eines »uns ursprünglich fremden Stammes«; Lazarus beachte nicht »den Unterschied von Religion und Confession; er denkt sich die Begriffe: katholisch, protestantisch, jüdisch als coordinirt«. Somit trifft diese Kritik Treitschkes an Lazarus haargenau auch die Rede der Großmanns in Fontanes Roman Mathilde Möhring und ihrer jüdischen Freunde in Woldenstein von einer »dritten Konfession«. Auch diese haben den Unterschied von Religion und Konfession offenbar nicht beachtet oder gezielt nivelliert, um sich Gleichberechtigung zu erschleichen.
Die markanteste Textstelle aus Mathilde Möhring belegt diese Interpretation – und sie steht einmal mehr exemplarisch für Hinweise auf antisemitische Impulse in Fontanes literarischen Werken und – beißend satirischen – antisemitischen Bloßstellungen liberaler und jüdischer Gleichheitsideale und Gleichstellungswünsche in einem »christlich-germanischen« Staat. Silberstein schwärmt von dem Bürgermeister Großmann und seiner Frau: »Ist er nicht wie Nathan? Ist er nicht der Mann, der die drei Ringe hat? Ist er nicht gerecht und sieht doch aus wie ein Apostel? Und seine Frau Gemahlin, eine sehr gebildete Frau, hat gesprochen von der Dreieinigkeit, und der Papst in Rom und Luther und Moses, die müßten aufgehn in Einem. Und dies sei Preußen. Und sie sei gesegnet wegen der Einheit. Das hat sie gesagt, und ich sage dir: Moses bleibt, Moses hat die Priorität.«
Der Autor ist Professor an der Universität Köln und Verfasser des Buches »Theodor Fontane: Realismus, Redevielfalt, Ressentiment« (Verlag J.B. Metzler).