Analyse

Kollektiv contra Israel

Wenn es um Israel geht, verlieren manche den Kopf: Linke-MdB und Gaza-Aktivistin Inge Höger Foto: dpa

Immer wenn man denkt, einen tieferen Verrat an ihren eigenen Idealen könne die politische Linke kaum mehr begehen, zeigen ihre Vertreter, dass es doch geht. Zuletzt zeugte ein Flugblatt mit dem Titel »Nie wieder Krieg für Israel« auf der Website der Duisburger Linkspartei von einem rabiaten Antisemitismus, den sich in dieser Offenheit selbst die NPD nicht gestattet hätte. »Informiert Euch über die wahren Hintergründe des Judaismus!«, heißt es in dem Text, vom »sogenannten Holocaust« und der »Judenpresse« ist die Rede. Der »Schurkenstaat« Israel sei »das einzige Land der Welt, in dem Folter, Sippenhaft und außergerichtliche Exekutionen legal sind und tagtäglich angewandt werden«. Der Text beginnt mit einem angeblichen Zitat, des ehemaligen israelischen Premierministers Ariel Sharon: »Wir, das jüdische Volk, kontrollieren Amerika, und die Amerikaner wissen das.«

hirngespinste Man muss kein Nahostspezialist sein, um zu erkennen, dass es sich um ein antisemitisches Hirngespinst in der Tradition der »Protokolle der Weisen von Zion« handelt. Die Zitatfälschung wurde in den letzten Jahren vor allem von dem früheren Ku-Klux-Klan-Führer David Duke, aber auch von der Hamas verbreitet. Das Flugblatt stammt ursprünglich von Ahmed Rami, einem schwedischen Antisemiten marokkanischer Herkunft. Auf seiner Website www.radioislam.net werden Hitlers Mein Kampf und die Protokolle der Weisen von Zion in mehreren Sprachen zum Download angeboten.

Vertreter der Linkspartei distanzierten sich zwar pflichtgemäß empört von dem Machwerk und nahmen es vom Netz, nachdem der Blog www.ruhrbarone.de die Geschichte aufgedeckt und publik gemacht hatte. Aber angesichts dessen, dass der Text zumindest seit Anfang des Jahres auf der Seite des Duisburger Kreisverbandes abrufbar war, ohne dass sich ein Genosse daran gestört hätte, erinnert dies dann doch an den Witz vom auf frischer Tat ertappten Wilddieb, der auf die Frage des Wildhüters, was er denn auf seiner Schulter trage, den Erschrockenen markiert: »Huch, ein Reh!«

kollektivismus Glaubhafter wäre die Distanzierung ausgefallen, wenn nicht viele Fraktionen der politischen Linken schon seit Jahren einen rabiaten Antizionismus pflegen würden. Diese besondere Leidenschaft, sich mit dem »kleinen Satan« Israel zu beschäftigen, hängt unter anderem mit dem ausgeprägten Hang der Linken zur Fetischisierung des Kollektivs zusammen. »Die Welt hasst den Individualismus«, klagte Oscar Wilde einst. Für den englischen Dichter bestand das Ziel des Sozialismus eben in diesem Individualismus. Heute jedoch verachtet und hasst neben der äußersten Rechten niemand so sehr den Individualismus wie die politische Linke. »Life, Liberty and the pursuit of Happiness« sind ihre Sache nicht.

Hier treffen sich große Teile der Linken mit den Antisemiten. Denn für beide steht nicht das Individuum mit seinen Bedürfnissen im Vordergrund, sondern ein religiöses, soziales oder nationales Kollektiv: Was früher die Christenheit war oder die Volksgemeinschaft, ist heute die islamische Umma oder, in säkularisierter Form, der mit der Scholle verwachsene, gleichsam naturwüchsige Volkskörper, wohingegen Israel als künstliches »zionistisches Gebilde« wahrgenommen wird. Das zeigt sich auch an den gängigen antizionistischen Parolen. Eher selten ist die Rede von »Freiheit für die Palästinenser«. Stattdessen heißt es meist »Freiheit für das palästinensische Volk«.

projektion Die Juden werden in diesem Denk- und Affektsystem als religiöses – oder Israel als nationales – Gegenkollektiv wahrgenommen und gehasst, aber zugleich heimlich beneidet. Denn in der Vorstellungswelt der Antisemiten sind die Juden/Israelis gleichschaltungsresistent. Da- mit erinnern sie den Antisemiten unbewusst an seine eigene armselige Existenz in seiner freiwilligen Unterwerfung unter die eigene Gemeinschaft. Es ist, als würde die gesichtslose, dem Herdentrieb folgende graue Maus den Juden mit den Worten der Madrider Al-Qaida-Attentäter vorwerfen: »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod!« Denn was ist Leben anderes als die Wahrnehmung eigener, also individueller Wünsche?

Der aggressive Wunsch der Antisemiten, die Juden als Störenfriede der eigenen Friedhofsruhe loszuwerden, verdichtet sich im Verlangen nach Elimination. Es handelt sich dabei um den von Freud beschriebenen unbewussten Vorgang der Projektion. Um die eigene Aggressivität zu kaschieren, werden die Juden beziehungsweise Zionisten stets als Angreifer halluziniert. Früher hieß es »Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!«, heute, auf dem Flugblatt, das sich auf dem Server des Duisburger Kreisverbandes der Linkspartei befand: »Tretet der moralischen Erpressung durch den sogenannten Holocaust entgegen! Wahrheit macht frei!«

Eine notwendige Nachbemerkung: Politische Gegner der Linkspartei sollten allerdings zunächst vor ihrer eigenen Tür kehren, statt die Kritik am linken Antisemi- tismus für ihre eigene politische Agenda zu instrumentalisieren (und damit zugleich den Antisemitismus zu einer Rand-erscheinung zu erklären). Denn latent ist der Antisemitismus außerhalb der Linken kaum weniger heimisch. Wobei Union und FDP einst, schon aus Gründen des Ansehens, mit Hohmann und Möllemann konsequenter gebrochen haben als die vom Anspruch her antifaschistische Linkspartei mit ihren eigenen Judenhassern. Als erklärte Oppositionspartei genießt die Linke offenbar eine Art Narrenfreiheit und kann sich deshalb eher erlauben, offen antisemitische Gestalten in ihren Reihen zu dulden.

Tilman Tarach ist Autor eines Buches über den Nahostkonflikt (»Der ewige Sündenbock«, Edition Telok, Freiburg 2010).

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025