Er ist noch keine 30 und doch bereits so etwas wie ein Star der Wissenschaftspublizistik. Das gibt es wohl nur in den USA, wo es nicht als Schande gilt, Expertenwissen für ein breites Publikum verständlich und unterhaltsam aufzubereiten. Jonah Lehrers Beiträge über Psychologie und Hirnforschung erscheinen sowohl in Fachblättern als auch im New Yorker oder der Washington Post. Dabei entspricht der junge Autor so gar nicht dem Klischee des »nerds«, der außerhalb seines Fachgebiets nichts wahrnimmt. In seinen Texten geht Lehrer der Frage nach, wie die Ergebnisse der Hirnforschung in ihren kulturellen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind.
intuition Zwei Bücher hat Lehrer bislang verfasst, eines davon ist jetzt auf Deutsch erschienen: Prousts Madeleine. Hirnforschung für Kreative. Der Untertitel ist irreführend, handelt es sich doch um kein Selbsthilfebuch à la »Philosophie für Manager«. Der Originaltitel bringt die Sache eher auf den Punkt: »Proust was a Neuroscientist«. Lehrers These: Vieles, was die Hirnforschung heute mit avanciertesten Methoden herausfindet, haben Künstler und Schriftsteller bereits Jahrzehnte früher erahnt. Marcel Proust etwa habe in seiner Suche nach der verlorenen Zeit genau beschrieben, wie das menschliche Gedächtnis funktioniert. Die berühmte Episode mit den Madeleines, die Lehrers Buch den Titel gab, illustriert, wie Sinneswahrnehmungen bestimmte Erinnerungen hervorrufen. Oder Walt Whitman, Dichter der amerikanischen Romantik: In seinen Poemen habe er erkannt, dass Gefühle nichts Immaterielles sind, sondern durch Körperzustände erzeugt werden – so wie es der Neurologe Antonio Damasio vor einigen Jahren belegte. »Heute wissen wir«, schreibt Lehrer, »dass Cézanne den visuellen Cortex unheimlich präzise erfasst hat ... und (Virginia) Woolf das Geheimnis des Bewusstseins lüftete«.
In weiteren Kapiteln treten auf: George Eliot, Igor Strawinski, Gertrude Stein und andere. Jonah Lehrer behauptet dabei nicht, diese Künstler seien klüger als die empirische Forschung: »Wir können ihre Kunst unmöglich verstehen, wenn wir ihren Bezug zur Wissenschaft außer Acht lassen.«
Jonah Lehrer: Prousts Madeleine. Hirnforschung für Kreative. Piper, München 2010, 304 S., 21,95 €