Es ist kurz vor 21 Uhr, als der Alarm losgeht. Ich liege mit einem Schokoriegel auf dem Sofa und netflixe. Mein Mann hat oben im Dachzimmer einen Online-Kurs in Gewaltfreier Kommunikation. Er kommt die Treppe heruntergelaufen, lacht noch in seinem Zoom-Call: »Wir müssen kurz in den Bunker, melde mich gleich wieder.«
Wir gehen zusammen in unseren Schutzraum, der in unserer Tel Aviver Vierzimmerwohnung gleichzeitig das Schlafzimmer unserer beiden Kinder ist. Die Kinder pennen. Gott segne ihren Schlaf, die ersten Stunden nach dem Einschlafen hören die gar nichts. Gute Tel-Aviv-lärmtrainierte Kinder. Immerhin wohnen wir mitten auf der Dizengoff-Straße.
Sirene Die Sirene heult, und mein Mann und ich sitzen im Dunkeln. Ich denke: Ja klar, okay, kenne ich, schaffen wir. Erst Sirene, dann ein »Boom«, dann warten, dann geht’s weiter.
Aber heute Abend ist alles anders. Normalerweise schickt die Hamas uns zwei, drei Raketen gleichzeitig. Heute Abend werden es in wenigen Minuten Hunderte sein. Die ganze Stadt zittert, es knallt, es explodiert. Unser Haus wackelt. Die Sirene hört gar nicht mehr auf. Ich habe das Gefühl, der »Iron Dome« schießt die Raketen direkt über unseren Köpfen ab. Und denke dann: Wie viele Raketen kann der eigentlich gleichzeitig bewältigen? Und denke: Wir sind hier im vierten Stock in Richtung Süden. Und wie sicher ist so ein Schutzraum überhaupt? Das hier ist Tel Aviv, hier ist doch alles improvisiert. Überall knallt es. Sirenen von Krankenwagen vermischen sich mit dem heulenden Ton des Raketenalarms. Unser Haus scheint laut zu stöhnen. Es klappern Türen, Jalousien.
Die ganze Stadt zittert, es knallt, es explodiert. Unser Haus wackelt.
Die Welt steht auf dem Kopf. Und da merke ich es. Ich fange an zu hyperventilieren. Die Dunkelheit, die vielen tosenden Explosionen. Panikattacke. Die Kinder schlafen immer noch, und ich versuche, möglichst leise zu weinen, um sie ja nicht zu wecken. Ich höre mich beten. Schma Israel, immer wieder. Das habe ich noch nie getan.
Eltern Irgendwann ist der Albtraum vorbei, und ich taumle zurück ins Wohnzimmer. Sitze dort wie gelähmt in der Ecke. Telefoniere mit meinen Eltern. »Die Kinder schlafen!« Gott sei Dank. Wir sind alle geschockt. Die, die so weit weg sind in Deutschland, am meisten. Ich bekomme eine Nachricht nach der anderen. Irgendwann lege ich mich schlafen, im Bunkerraum neben meine Söhne.
Nachts um drei geht es wieder los. Mein Mann kommt hereingestürmt, und neben dem normalen Raketenalarm tönt jetzt auch noch ein weiterer Raketenalarm, viel schriller, scheinbar direkt bei uns nebenan. Ich habe die Explosionen schon gehört, bevor der Alarm überhaupt losging. Dieses Mal haben wir nicht so viel Glück, die Kinder wachen auf. »Raketenalarm«, sagt mein großer Sohn sofort. Er ist sieben. Als er gerade ein paar Monate alt war, sang ich ihm Kinderlieder vor. Im Hintergrund dröhnte auch schon damals der Raketenalarm dazu.
Das war die Operation »Protective Edge«. Mehr mit Krieg aufwachsen geht nicht. Damals saß ich mit ihm alleine im Bunker, sein Vater war als Major in Reserve eingezogen worden. Sieben Jahre später ist es viel schlimmer. Es gibt viel, viel mehr Explosionen. Und das kleine ruhige Baby von damals stellt nun Fragen. Fragen wie: »Warum schießen die auf uns?« Ich halte im Dunkeln seine Hand. »Das ist sehr schwierig«, sage ich. »Weil sie uns nicht mögen«, sagt mein Mann.
Ich zittere am ganzen Körper. Es ist eine Mischung aus Müdigkeit und Todesangst.
Wir versuchen, ihm das ein bisschen zu erklären, flüsternd, weil sein vierjähriger Bruder inzwischen wieder eingeschlafen ist (von ihm hört man nur ein leises Schmatzen). Wie erklärt man mal eben diesen verdammten Konflikt? Ohne dem Kind noch mehr Angst zu machen? Ohne es zu traumatisieren? Ohne ihm den Glauben an das Gute im Menschen zu nehmen?
Dunkel Vieles weiß er ja schon. Palästinenser kennt er. Dass wir irgendwie alle das gleiche Land wollen, hat er auch schon mal gehört. Wir hatten auch schon einen Terroranschlag in unserer Straße. Und in dem großen Bunker in seiner Schule hockte er auch schon mal. Irgendwann sage ich ihm: »Aber weißt du, in Gaza, da sitzen jetzt auch kleine Kinder im Dunkeln. Und die haben auch Angst. Und die haben nicht einmal einen Bunker. Und auch kein Abwehrschild.« Dann kann ich nicht mehr weitersprechen. Ich zittere am ganzen Körper. Es ist eine Mischung aus Müdigkeit und Todesangst. Wir halten uns an den Händen. Die Sirene schreit ihr Lied.
»Aba, Mama«, sagt mein kleiner Sohn, halb israelisch, halb deutsch, der ganze Wahnsinn der Geschichte in einem kleinen Körper, »könnt ihr euch bitte auf mich drauflegen? Alle beide?«
Und das machen wir. Es gibt sonst nichts zu tun. Es gibt nichts zu erklären und auch nichts mehr zu fragen. Wir liegen auf ihm und atmen weiter. Bis der Raketenalarm zu Ende ist.
Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Tel Aviv.