Stella Leder

Klartext

Die Enkelin von Stephan Hermlin hat ein schonungslos offenes Buch über ihre deutsch-jüdische Ost-Berliner Familie geschrieben

von Marko Martin  05.12.2021 09:29 Uhr

Wie ist es wirklich bestellt ist im Land der »Erinnerungsweltmeister«?: Autorin Stella Leder Foto: Paula Winkler

Die Enkelin von Stephan Hermlin hat ein schonungslos offenes Buch über ihre deutsch-jüdische Ost-Berliner Familie geschrieben

von Marko Martin  05.12.2021 09:29 Uhr

Stephan Hermlin war einst einer der bekanntesten Schriftsteller und Konferenz-Intellektuellen des geteilten Deutschland. Dabei war er als Lyriker und literarischer Übersetzer bereits relativ früh verstummt und hatte bis auf das poetisch elegant zwischen Selbststilisierung und Erinnerung changierende Prosastück »Abendlicht« von 1979 auch als Erzähler kaum je größeres Aufsehen erregt, trotz immer neuer Bände mit wechselnder Zusammenstellung des vor Jahrzehnten Erschienenen. Dass der 1912 in Chemnitz als Rudolf Leder in einer jüdischen Familie Geborene, der die Nazizeit und den Holocaust im Exil überlebte, nach Kriegsende in die DDR und nicht in die »Globke-BRD« übergesiedelt war, schien dabei aus der Perspektive eines Kommunisten durchaus plausibel.

Moderne Von den einen späterhin als »Edelstalinist« und Honecker-Freund kritisiert, von den anderen als »Kümmerer« geschätzt (Hermlin setzte sich hinter den Kulissen für die Bücher der westlichen Moderne ein und initiierte 1976 den Schriftstellerprotest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns), der überdies bei deutsch-deutschen Kongressen zusammen mit seinem Pfeifenraucher-Kollegen Günter Grass stets Bedenkenswertes gegen die Hochrüstung et cetera zu dekretieren wusste, ist sein Bild jedoch inzwischen weithin verblasst.

Seine Enkelin Stella Leder, geboren 1982 in West-Berlin (ihre Mutter war 1977 aus der DDR ausgereist), hat jetzt ein Buch veröffentlicht, dessen Lektüre auch jenen Jüngeren zu empfehlen ist, die bislang kaum etwas von Hermlin gelesen oder gehört hatten. Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten ist, wie es im Untertitel heißt, eine deutsch-jüdische Familiengeschichte – und gleichzeitig weit mehr. Nach Öffnung der Stasiakten war nämlich offenbar geworden, was Stella Leders Mutter schon immer geahnt hatte: Ihre eigene Mutter Gudrun, die geschiedene zweite Ehefrau Stephan Hermlins, hatte sie zusammen mit ihrem linientreuen neuen Mann jahrzehntelang bespitzelt.

PERFIDIE Entsprechend den MfS-Direktiven von »psychischer Zersetzung« war sogar die Enkelin Stella zum Opfer dieser Perfidie geworden – auch über die Mauer hinweg gelang es der scheinbar besorgten Oma, Gift und Lügen zu verbreiten. Weshalb aber tut ein Mensch so etwas? Lag es an ihrer weit zurückliegenden Idealisierung des »genialen Juden Hermlin«, die sich inzwischen längst in Hass auf den tatsächlichen oder vermeintlichen »Hypersexuellen« gewandelt hatte, wobei sie in ihrer Tochter die Charakterzüge ihres Ex-Mannes wiederzuerkennen meinte?

In der einst hitlertreuen Gudrun, die nach der Scheidung für die Stasi spitzelte, 1989 den Fall der Mauer begrüßte, jedoch dann alsbald in das gängige Lamento eines »Wir wurden früher betrogen, wir werden heute betrogen« verfällt und bis zu ihrem Tod 2019 ein Sich-ehrlich-Machen rüde verweigert, beschreibt die Enkelin voller Genauigkeit und nicht-eifernder Präzision einen in der Tat sehr deutschen Beziehungskomplex voller Projektionen, Täter-Opfer-Umkehrungen, Neurosen und Verdrängungen.

DOKTRIN Doch hatte nicht auch ihr Großvater Stephan Hermlin mit den Spitzenfunktionären der SED auf einer Bühne gesessen, wohl wissend, dass diese Partei Assad senior und die PLO in deren tödlichen Attacken auf Israel nicht allein publizistisch, sondern auch logistisch unterstützte? Hatte er nicht getreu der Doktrin »die jüdische Frage« für obsolet erklärt »in den Klassenkämpfen unserer Zeit«? (Der Rezensent erinnert sich noch genau an sein Unbehagen, mit dem er als Jugendlicher in der DDR in einem Hermlin-Interviewband die Eiseskälte solcher Postulate wahrgenommen hatte.)

Jahrelang wurde die Familie von der zweiten Ehefrau Hermlins bespitzelt.

Und dennoch: Als 1997, ein Jahr vor Hermlins Tod, der Literaturkritiker Karl Corino in der »Zeit« auf frappierende Unstimmigkeiten in dessen Geflecht aus Autofiktion, Lebenslauf und so manchen Andeutungen hinwies, hatten Stella Leder und ihre Mutter ein durchaus ungutes Gefühl: »Während man sich in meinem Umfeld gegenseitig der Unschuld der eigenen, deutschen Familien versicherte, musste mein Großvater sich rechtfertigen.«

Eine solche Perspektive gilt es ernst zu nehmen – auch wenn Leders Vorwurf, der renommierte Robert-Musil-Biograf Karl Corino berühre aufgrund seiner Nachfragen »die Grundfigur des sekundären Antisemitismus«, zu weit führt. Im Gegenteil: Wer wie Hermlin den KZ-Tod des emigrierten Vaters und die eigene aktive Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und in der Résistance suggerierte, um mit solcherart Aura auch seine prominente Position im SED-Staat zu rechtfertigen, müsste sich selbst den Vorwurf der Instrumentalisierung gefallen lassen.

Deutsch-deutsche Ungeheuerlichkeiten – in Stella Leder finden sie eine unbestechliche Chronistin.

Dafür aber schreibt nun die Enkelin Klartext über die Verlogenheit ostdeutscher Geschichtsumdeutung: »Der antisemitische Kern des Nationalsozialismus wurde heruntergespielt, die Shoah als eine Art Unterkapitel des Faschismus verstanden.« In ihrem (stilistisch mitunter ein wenig zu abrupt) zwischen Memoir und politischer Analyse changierenden Buch finden sich freilich auch Erkenntnisse, welche den Westen betreffen.

RECHTSEXTREMISMUS Zusammen mit ihrer Mutter oftmals umgezogen, war sie zwischen Berlin, Bremen, Frankfurt und hessischer Provinz zur Zeugin familiärer Gewalt selbst in »gutbürgerlichem« Umfeld geworden, hatte das von der Polizei kaum je konsequent verfolgte Treiben junger und älterer Rechtsextremisten hautnah erlebt – und war dann schließlich in einer vermeintlich aufgeklärten Schule in der Main-Metropole von ihrer Lehrerin aufgefordert worden, sich zur »Apartheid« in Israel zu äußern. Zuvor hatte die Klasse, worauf die Lehrerin viel Wert gelegt hatte, eine Schulreise nach Auschwitz unternommen.

Deutsch-deutsche Ungeheuerlichkeiten, entweder brutal oder im bigotten Gewand von »Geschichtspolitik« – in Stella Leder finden sie eine unbestechliche Chronistin. Dazu eine letzte Episode, wie es wirklich bestellt ist im Lande der selbst erklärten »Erinnerungsweltmeister«: Alfred Leder, der Bruder von Stella Leders Großvater Hermlin, »war 1934 nach Palästina ausgewandert, nachdem er eine Ausbildung in einem Hachschara-Lager begonnen hatte«.

STOLPERSTEIN Auf dem Stolperstein, den der umtriebige Gunter Demnig verlegen ließ, war nun allerdings von »Flucht« zu lesen. Stella Leders Mutter intervenierte und rekurrierte auf den selbstbestimmten Akt. »Vorher gegangen zu sein: Darin liegt auch ein Stück Stolz. Deshalb wünschen wir uns, dass es auf dem Stolperstein ›Auswanderung‹ statt ›Flucht‹ heißen möge.«

Das Nachfolgende könnte sprachlos machen, beweist aber vor allem, wie wichtig und augenöffnend dieses Buch ist. »Der Künstler antwortete, die Inschriften auf den Steinen seien seine Inschriften, er würde nicht wegen ›privater Befindlichkeiten‹ abweichen, sonst würde es zu einem ›Durcheinander‹ kommen.«

Stella Leder: »Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte«. Ullstein, Berlin 2021, 205 S., 22 €

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