Am 29. Mai 1913 fand die Pariser Premiere von Strawinskys Le Sacre du Printemps statt – womöglich der größte Skandal der Musikgeschichte. Der Schriftsteller Jean Cocteau erinnerte sich: »Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach.« Es kam zu Handgreiflichkeiten, am Ende wurden 27 Verletzte gezählt. Strawinsky flüchtete durch ein Fenster hinter der Bühne. Er selbst meinte dazu: »Ich wollte … die Auferstehung der ganzen Welt.«
107 Jahre später brauchen wir eine zweite Auferstehung. Wir Kulturschaffende sehen der größten Herausforderung unseres Lebens entgegen. Gewissermaßen ein »Reset« für die ganze Welt. Wir sind gezwungen, anders zu denken. Was ist Entertainment, was ist jetzt Unter der Haltung zu finden, und wie erreicht man in Zukunft die Menschen? Selbst wenn die Konzertsäle und Theater morgen wieder aufmachten – würden die Leute dort hineinströmen?
HILFSMITTEL Was seitens der Politik in Deutschland als Hilfsmittel für die Kultur angeboten wird, ist aus meiner Sicht lebensnotwendig und setzt immense finanzielle Summen frei. Das ist einzigartig und sehr willkommen, aber leider nicht ausreichend. Ich bin in Großbritannien aufgewachsen, einer Insel, deren Politiker bereits vor ihrem Selbstmordversuch durch den Brexit kaum die Notwendigkeit sahen, Kultur auch nur ansatzweise anständig zu unterstützen.
Was seitens der Politik in Deutschland als Hilfsmittel für die Kultur angeboten wird, ist aus meiner Sicht lebensnotwendig.
Inzwischen steht die Theaterlandschaft Englands vor dem Aus. Während einige Kulturinstitutionen öffentliche Hilfsgelder zur Überbrückung der Krise erhielten, sind etwa Shakespeare’s Globe Theatre, Londons National Theatre, die Royal Shakespeare Company und das Royal Opera House vom Arts Council of England, der nationalen Fördereinrichtung für Künste, »ohne jegliche Notunterstützung alleingelassen« worden, so die Kritik. War es nicht Moses Mendelssohn, der deutsche Philosoph, der warnte: »Je edler ein Ding in seiner Vollkommenheit, desto grässlicher seine Verwesung. So auch mit Kultur und Aufklärung.«
Wie reagieren wir? Bleibt uns nur die Aussage »Systemrelevanz oder Systembruch«, so wie die FAZ neulich mahnte? Nachdem bei mir mehr als 70 Konzerte und jahrelange künstlerische Planungen innerhalb von wenigen Tagen annulliert wurden, sah ich mich gezwungen, schnell zu reagieren. Über Nacht entstand in meinem Wohnzimmer ein Fernsehstudio, bisher haben über drei Millionen Menschen weltweit meine kleine Kammermusikserie Hope@Home auf Arte gestreamt.
SCHATTENBILD Solange es einen Lockdown gab, hieß es: »Stay home«. Nun verlassen wir mein Wohnzimmer und musizieren in geschichtsträchtigen Gebäuden in Berlin. Demnächst soll es die ersten Folgen mit Publikum in der Frauenkirche Dresden und im Beethoven-Haus Bonn geben. Sicherheitsabstand, Masken, los! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir Künstler noch länger warten, bis andere die Kulturwelt für uns neu definieren, sind wir nur noch ein Schattenbild unserer selbst.
Musik lohnt sich – und das meine ich nicht materiell.
Die Musik hatte immer schon heilende Kräfte, und sei es nur, dass sie die Nerven beruhigt – so wie anno 1873, als Johann Strauß gleich nach dem großen Börsenkrach in Wien in seiner Fledermaus schrieb: »Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.«
Vielleicht sollte man bedenken, dass Krisen auch den Anstoß zu neuen Überlegungen und Anstrengungen bieten können, dass sie – wie es Max Frisch einmal formuliert hat – in einen »produktiven Zustand« übergehen können, sofern man ihnen »den Beigeschmack der Katastrophe nimmt«.
VERMITTLUNG Schon lange vor der Pandemie habe ich mich gefragt, warum die Menschen, vor allem die jüngeren, immer seltener die Gelegenheit wahrnehmen, klassische Musik zu erleben. Die Gründe wurden vielfach genannt: Hausmusik sei zur Ausnahme geworden, der Musikunterricht in den Schulen weggespart, klassische Konzerte abschreckend, weil antiquiert, Oper häufig elitär, Kartenpreise zu hoch. Vielleicht ist die wahre Krise, wie nachlässig wir mit der Musik und deren Vermittlung in den letzten Jahrzehnten umgegangen sind? Haben wir uns möglicherweise selbst irrelevant gemacht?
Der Zweck der Kunsterziehung ist es nicht, mehr Künstler zu produzieren, sondern Menschen auszubilden, die fähig sind, ein erfülltes und verantwortungsvolles Leben in einer freien Gesellschaft zu verwirklichen. Wenn wir uns in einer globalen Welt durchsetzen wollen, brauchen wir Kreativität, Einfallsreichtum und Innovation.
Die Rolle von Kultur sollte weit über das Wirtschaftliche hinausgehen – ihr Fokus sollte der Wert sein, und nicht der Preis, den ein Markt definiert.
Dies geschieht nicht nur durch Technologie, Finanzen und Wirtschaft, sondern auch durch die Fantasie der Menschen und durch deren Erfüllung in den Künsten als eine unersetzliche Art, die Welt zu verstehen und zu definieren.
GEGENGEWICHT Die Rolle von Kultur sollte weit über das Wirtschaftliche hinausgehen – ihr Fokus sollte der Wert sein, und nicht der Preis, den ein Markt definiert. Es gibt nur eine soziale Kraft, die stark genug ist, um ein Gegengewicht zu der Vermarktung von kulturellen Werten darzustellen – und das ist unser Bildungssystem.
Wir befinden uns im Jahr 2020, und in unseren Schulen werden Kinder oft unzureichend in Musik, in bildender Kunst, in Tanz oder in den literarischen Künsten ausgebildet. Wie soll die nächste Generation unsere Kultur auf Händen tragen, wenn ihr die Hände bereits jetzt gebunden sind?
Musik lohnt sich – und das meine ich nicht materiell. Musik lohnt sich, weil sie jeden, der sie mit wachen Sinnen in sich aufnimmt, bereichert und mit Sphären vertraut macht, die ohne Musik verschlossen blieben. Wir sollten kämpfen, die Musik wieder zu stärken, damit ihre Strahlkraft sie noch ein wenig heller strahlen lässt.
Der Autor ist deutsch-britischer Violinist und Musikdirektor des Zürcher Kammerorchesters.