Als der Abspann von Ari Folmans neuem Animations-Film Wo ist Anne Frank läuft, kommt mit Wucht ein Satz zu mir zurück, den ich vor vielen Jahren von einem Film-Professor gehört habe: »Ob der Holocaust vergessen wird, hängt davon ab, wie er erinnert wird.«
Eines ist klar: Der gefeierte Waltz with Bashir-Regisseur hat einen beeindruckenden Beitrag dazu geleistet, dass eine neue Generation daran erinnert wird, welche Hölle vor 80 Jahren in Europa möglich war. Und er gibt auch eine Antwort auf die Frage, was die Vergangenheit für das Heute bedeuten sollte.
IKONE Anne Franks »Tagebuch« ist seit seiner Veröffentlichung am 25. Juni 1947 eine didaktische Ikone. In 70 Sprachen wurde die Geschichte des Mädchens übersetzt, das mit seiner Familie in einem Amsterdamer Versteck die Schoa überlebt, bis sie verraten werden.
Millionen Menschen haben die Aufzeichnungen, meist in Form von Briefen an Annes imaginäre Freundin Kitty, gelesen. Sie haben mitgelitten, mitsinniert, mitgefürchtet, mitgefühlt. Das tun sie bis heute, denn das Buch ist ein Meisterwerk der Empathie. Kaum jemand, dem das lachende Gesicht mit den großen dunklen Augen und dem dunklen Haar nichts sagt.
Doch Gedenken ist eine komplizierte Sache, es flacht ab mit der Zeit. Wiedererkennen wird mit Wissen verwechselt. Die Datenmenge über das, was passiert ist, schrumpft, bis nur mehr Tweet-lange Einschätzungen übrig bleiben, die der Realität niemals gerecht werden können. Also Gefühle statt Fakten. Doch Gefühle sind leicht manipulierbar.
Ari Folmans Idee zur Rettung von Fakten und Aufmerksamkeit ist brillant, reißt er doch Anne Franks Geschichte aus ihrer Wiedererkennbarkeit.
Ari Folmans Idee zur Rettung von Fakten und Aufmerksamkeit ist brillant, reißt er doch Anne Franks Geschichte aus ihrer Wiedererkennbarkeit, indem er die Heldin wechselt. Kitty statt Anne, besagte Brieffreundin, die Anne im Tagebuch genau beschreibt. In Folmans Film erwacht diese Kitty in naher Zukunft im Anne Frank Haus in Amsterdam und sucht nach ihrer Freundin. Schließlich weiß sie nur das, was im Tagebuch steht. Sie macht sich auf den Weg.
REISE So schickt Folman sein Publikum auf eine doppelte Reise: Zuerst erfahren wir zusammen mit Kitty, was Anne zugestoßen ist, nachdem diese das Tagebuch zurücklassen musste. Und auch, wenn alle Welt meint, bereits alles über das Schicksal des Teenagers zu wissen, durch Kittys Stellvertreter-Blick kommt der Schmerz noch einmal schrecklich nah.
Die zweite Reise geht in die Zukunft: Welche Bedeutung hat Anne in der modernen Welt? Was haben die Menschen gelernt? Haben sie etwas gelernt? Folman nimmt das Schoa-Business genauso aufs Korn wie die Bigotterie des fleißig beschrienen Versprechens »Nie wieder«.
Kitty, die das Tagebuch an sich genommen hat und durch Amsterdam läuft, trifft Menschen, die vor Krieg und Hunger nach Europa geflohen sind, und erlebt, wie die westliche Wohlstandsgesellschaft diese behandelt. Sie ist schockiert und wütend, cool und furchtlos. Sogar verlieben darf sie sich.
PUBLIKUM Die Bilder und die Sprache sind klar auf ein junges Publikum zugeschnitten. Der Film ist auf Anfrage der Anne-Frank-Stiftung entstanden, die Annes Vater Otto, der als Einziger der Familie die Lager überlebte, nach dem Krieg gegründet hat. Er habe diesen Film voll und ganz im Sinne des Vermächtnisses von Otto Frank gemacht, sagte Ari Folman bei der Berliner Premiere. Dem sei es um zwei Dinge gegangen: zum einen darum, dass der Wunsch seiner Tochter, die berühmteste jüngste Autorin der Welt zu werden, in Erfüllung gehe, zum anderen, dass das Gedenken an die Schoa dazu genutzt werde, Empathie zu wecken.
Beides ist Otto Frank gelungen. Folman führt das mit aller Ernsthaftigkeit fort. Acht Jahre lang hat er an dem Film gearbeitet. »Als ich studiert habe, dachte ich, dass meine Filme die Welt verändern werden«, sagt der Filmemacher. »Heute weiß ich, dass selbst kleine Veränderungen schon sehr viel sind.« Unberührt lässt dieser Film niemanden.
Der Film »Wo ist Anne Frank« läuft ab dem 23. Februar im Kino.