Es sei sein dunkelstes Buch, sagt Dmitrij Kapitelman, »weil es von echtem Krieg erzählt«. Russische Spezialitäten heißt es und ist der neueste Roman des 1986 in Kyjv geborenen und in Berlin lebenden Autors. Genauso nennt sich aber auch der von den Eltern des Ich-Erzählers im Roman, der übrigens starke autobiografische Züge trägt, in Leipzig betriebene Gemischtwarenladen – obwohl seine Besitzer aus der Ukraine stammen, keine Russen beschäftigen und auch kaum russische Lebensmittel führen.
Gerade deshalb ist der »Magasin«, was auf Russisch so viel wie »Laden« heißt, für Kapitelman »eine Miniatur für das imperialistische Verständnis Osteuropas«. Die von außen herangetragene und bisweilen auch selbst gewählte Zuordnung als »russisch« werde von der postsowjetischen Diaspora nämlich kaum hinterfragt. Der elterliche Spezialitätenladen bildet die erzählerische Klammer im ersten Teil des Romans, in dem Kapitelman allerlei verschrobene Figuren auftreten lässt, die sich in der sächsischen Fremde nach dem verlorenen Geschmack ihrer Heimat sehnen.
Leipziger Migranten-Mikrokosmos
Der »Magasin« sei einerseits »ein Ort relativer Unschuld«, erklärt Kapitelman, zugleich aber »so politisch, wie ein Ort nur sein kann«. Denn die Zeitläufte gehen auch am Leipziger Migranten-Mikrokosmos nicht spurlos vorbei. Das wird vor allem an der Mutter des Ich-Erzählers sichtbar, die sich zunehmend der russischen Propaganda ausliefert und irgendwann sogar Putins Krieg gegen die Ukraine unterstützt.
Das Buch schließt an die autobiografisch gefärbten Romane an. Neu ist seine Härte und Dringlichkeit.
Mit einem liebevollen, Humor-unterfütterten und zugleich illusionslosen Blick versucht Kapitelman anhand dieser Mutterfigur die Mechanismen der auf Desinformation basierenden Putin-Herrschaft offenzulegen, die nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gesellschaften vergiftet.
»Diese Figur ist stellvertretend für ganz viele Familien«, betont der im Alter von acht Jahren als »Kontingentflüchtling« nach Deutschland eingewanderte Autor. »Dass wir uns nicht mehr auf das Grundlegendste einigen können, ist einer der Antriebe für dieses Buch«, bekennt Kapitelman und spielt damit auf das wohl selbst erlebte Abdriften enger Verwandter in russische Propagandanarrative an.
Obwohl als Roman ausgewiesen, fügt sich Russische Spezialitäten nahtlos in Dmitrij Kapitelmans autobiografisch gefärbte Trilogie der postsowjetisch-jüdischen Irrungen und Wirrungen auf deutschem Wiedergutmachungsboden ein. So war bereits sein Debütroman Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters eine zärtlich-kritische Hommage an den eigenen Vater und eine Erforschung seiner jüdischen Identität. Eine Formalie in Kiew konnte wiederum als eine skeptisch-liebevolle Annäherung an die Geburtsstadt des Autors gelesen werden. All diese Motive sind auch im jüngsten Buch anzutreffen.
Neu dagegen ist die Härte und Dringlichkeit dieses Romans: Russlands Invasion der Ukraine scheint stets als dunkler Schatten präsent – und tritt im zweiten Teil, der von einem Besuch des Ich-Erzählers im kriegsversehrten Kyjv erzählt, ungefiltert in den Vordergrund. Kapitelman zeigt darin plastisch, was der seit mehr als drei Jahren andauernde Krieg mit den Menschen in der Ukraine macht und wie er ihr Leben verstümmelt hat – wie sie aber auch trotz allem weiterleben und nicht vollends verhärten.
Dass Kapitelman das Bittere, Harte und Gewaltvolle stets mit Zärtlichkeit, Liebe und einem nicht versiegenden Humor mischt, zählt zu den großen Stärken von Russische Spezialitäten. Mit bittersüßer Komik könnte es dem Autor erneut gelingen, die Leserherzen für sich zu gewinnen. In Zeiten der fortgeschrittenen Abstumpfung und des allgemeinen Verdrusses über den Ukrainekrieg ist das sehr viel wert. »Ich habe das Groteske gebraucht, um der Realität näherzukommen«, sagt Kapitelman denn auch. Überhaupt sei es für ihn »eine Frage des Respekts« gewesen, in die Ukraine zu reisen – statt einfach nur darüber zu schreiben, ohne dort gewesen zu sein.
Ein Mutterroman und ein Muttersprachenroman
Russische Spezialitäten ist ein Mutterroman und ein Muttersprachenroman. Er liebe die russische Sprache, betont Kapitelman. Sein Russisch ist, typisch für einen im Kindesalter aus dem ursprünglichen Sprachraum Ausgewanderten, eher mündlich geprägt. Sein unzureichendes Russisch reflektiert Kapitelmans Ich-Erzähler immer wieder augenzwinkernd. Über die mitunter grob falsche Schreibweise einiger russischer Wörter stolpert der sprachkundige Leser dennoch. Doch was bringt uns korrektes Russisch, wenn es vom Kreml als Propagandawaffe missbraucht wird?
Seiner Muttersprache räumt Dmitrij Kapitelman nicht zufällig einen zentralen Platz ein: »Es ist für mich ein Akt des politischen Protests zu sagen: Ich, der ukrainische Jude, der dieses Buch schreibt, liebe die russische Sprache mehr als ihr Mörder«, betont Kapitelman.
Zugleich weiß er, dass die russische Sprache in der Diaspora zu einem Kitt für die zu verschiedenen Zeiten aus verschiedenen Teilen der (Ex-)Sowjetunion eingewanderten Menschen geworden ist. Denn was ist Muttersprache? Sie ist der Draht zur eigenen Jugend, zu den in alle Welt zerstreuten Verwandten – das einzig Verbindende. Die Militarisierung der russischen Sprache durch Putins Regime übersieht die Diaspora oft – oder sie will sie gar nicht wahrhaben, um diesen letzten Kitt nicht zu verlieren. Auch davon handelt dieses sehr ernste, tragische, komische und gegenwärtige Buch.
Dmitrij Kapitelman: »Russische Spezialitäten«, Hanser Berlin, 2025, 192 S., 23 €