Ein Leben vor dem Gesetz. Es ist tatsächlich eine fast kafkaeske Situation, die das Geschwisterpaar Ronit und Shlomi Elkabetz in Get – Der Prozess der Viviane Amsalem beschreibt. Wieder und wieder müssen sich Viviane Amsalem und ihr Ehemann Elisha vor einem orthodoxen Rabbinatsgericht einfinden.
Nach 30 Jahren Ehe, in denen sich das Paar gänzlich entfremdet hat, will Viviane endlich die Scheidung. Doch dazu ist Elisha nicht bereit. Er hält mit all seiner Macht fest an einer eigentlich unerträglichen Situation, die er als göttliche Strafe und Prüfung versteht, und kann dabei auf religiöses Recht bauen, das alleine dem Mann die Entscheidung über die Scheidung zugesteht.
stillstand Fünf lange Jahre zieht sich der Prozess hin. In dieser schier endlos erscheinenden Zeit des Stillstands schrumpft die Welt auf diesen einen schmucklosen Gerichtssaal, die drei Richter, in deren Händen Vivianes Schicksal liegt, und die immer gleichen Fragen zusammen. Die drückende, alles zermürbende Enge der Situation wird existenziell, zumal Jeanne Lapoiries Kamera jeglichen Überblick verweigert.
Sie nimmt in jeder Einstellung die Perspektive eines der Beteiligten ein. Es sind die Blicke von Viviane und Elisha, von ihrem Anwalt Carmel und seinem Bruder Shimon, die Ronit und Shlomi Elkabetz zu einem komplexen Geflecht widersprüchlicher Ansichten und Erfahrungen verknüpfen. Ihre Sympathien liegen dabei ganz eindeutig auf Vivianes und Carmels Seite. Dennoch schnürt einem Elishas Zerrissenheit das Herz ab. Und wer könnte Shimons unbedingten Glauben an die Familie und die Traditionen einfach verdammen?
Offenheit Die Bereitschaft, sich allen Figuren auf Augenhöhe zu nähern, prägt aber nicht nur dieses extrem dichte Gerichtsdrama, das beim diesjährigen Jerusalem Filmfestival drei Preise gewonnen hat und am 13. November in die deutschen Kinos kommt. Sie ist schon seit einigen Jahren das wohl am deutlichsten hervorstechende Merkmal des israelischen Kinos. Eine bemerkenswerte Offenheit des Blicks, der einzelne Haltungen und Positionen unvoreingenommen betrachtet, verbindet Spiel- und Dokumentarfilme, Familiengeschichten und politische Dramen.
Immer wieder fordern die Filmemacher den Betrachter heraus, selbst zu gewichten. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie nun wie Scandar Coptis und Yaron Shanis Ensembledrama Ajami (2009) die komplexen Verhältnisse zwischen Juden, Muslime und Christen beleuchten oder sich wie Rama Burshteins An ihrer Stelle – Fill the Void (2012) und Haim Tabakmans Du sollst nicht lieben (2009), diesem stillen Meisterwerk des israelischen Queer Cinema, dem Leben der orthodoxen Juden zuwenden.
Natürlich spiegelt letztlich jede Filmindustrie die gesellschaftlichen Verhältnisse ihres Landes auf die eine oder andere Weise wider. Aber nicht selten sind Kinobilder Zerrbilder, die vieles gleich ganz ausblenden oder aber derart verzeichnen, dass sich die Wirklichkeit nur zwischen ihnen enthüllt. Der israelische Gegenwartsfilm, dem die Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland das vom 17. bis 19. September in Berlin stattfindende Filmseminar »Zwischen Krieg, Alltag und Liebe« widmet, geht einen anderen Weg.
Puzzle Filme wie Yuval Adlers Politthriller Bethlehem (2013) oder An ihrer Stelle, das Porträt einer jungen, zwischen eigenen Hoffnungen und familiären Erwartungen hin- und hergerissenen Frau, sind genauso wie Get oder Policeman (2011), Navad Lapids Gegenüberstellung staatlicher und linksextremer Gewalt, sehr präzise fokussierte Detail- und Momentaufnahmen. Sie suchen die Wahrheit oder zumindest eine Annäherung an sie in der größtmöglichen Nähe zu ihren Figuren.
Die Protagonisten dieser Filme reflektieren genauso wie jede ihrer Nebenfiguren eine eigene Facette des israelischen Alltags. So ist jeder dieser Filme für sich schon eine Art Puzzle, das die Wirklichkeit aus verschiedensten Perspektiven einfängt, und zugleich Teil eines noch größeren Puzzles, dessen einzelne Stücke sich zu einem faszinierenden Panorama verbinden lassen.
Dabei manövriert das israelische Gegenwartskino tatsächlich »zwischen Krieg, Alltag und Liebe«. Bethlehem, in dem sich ein israelischer Geheimdienstler und ein palästinensischer Jugendlicher in eine höchst fragile und zutiefst widersprüchliche Beziehung verstricken, und Alles für meinen Vater (2008), Dror Zahavis Chronik eines verzögerten Selbstmordattentats, erzählen von den Auswirkungen des Terrors und der Gewalt, die Israel und die Palästinensergebiete fest im Griff haben. Sie zeigen einen stetig schwelenden, zum Alltag gewordenen Krieg und verweigern jede simple Schuldzuweisung.
Dokumentationen Althergebrachte, ideologisch aufgeladene Erklärungsmuster greifen in ihnen genauso wenig wie in vielen israelischen Dokumentarfilmen der vergangenen Jahre. Der Wirklichkeit ist nicht mit einfachen Erklärungsmustern beizukommen. Davon zeugen mit Arnon Goldfingers Die Wohnung (2011) und Yael Reuvenys Schnee von gestern (2014) gleich zwei filmische Spurensuchen, in deren Verlauf ihre Macher die eigene Familiengeschichte noch einmal neu schreiben. Der fragende Blick zurück auf die Generation ihrer Großeltern fördert nicht nur Verschwiegenes zutage. Er erinnert auch daran, wie komplex und widersprüchlich jede Biografie in Wahrheit ist.
Von den Paradoxien des Lebens ist auch Der Anständige erfüllt. Vanessa Lapas Found-Footage-Dokumentation, die am 18. September in Deutschland anläuft, erzählt die Lebensgeschichte Heinrich Himmlers anhand von privaten Dokumenten, Briefen und Tagebucheinträgen. Himmler und seine Frau Marga werden von den Schauspielern Tobias Moretti und Sophie Rois gesprochen. Lapas Entscheidung, einem Täter noch einmal das Wort zu überlassen und dessen Ausführungen mit alten Dokumentaraufnahmen zu unterlegen, ermöglicht einen doppelten Blick auf den Nationalsozialismus. Die Innen- und die Außenperspektive treten in einen fortwährenden Dialog, der den Betrachter seine eigenen Schlüsse ziehen lässt.