Gabi Gleichmann ist gebürtiger Ungar. Doch der Diplomatensohn wuchs in Schweden auf. Seine Eltern, Überlebende des Holocaust, hatten in den 60er-Jahren beschlossen, aufgrund der politischen Entwicklung und des wachsenden Antisemitismus in verschiedenen Ostblockstaaten nicht nach Budapest zurückzukehren. Sie blieben in Stockholm. Gleichmann studierte Literatur und Philosophie. Er machte sich über die Grenzen Skandinaviens hinaus einen Namen als kritischer Journalist und engagierte sich als langjähriger Präsident des schwedischen PEN weltweit für die Rechte verfolgter Schriftsteller.
Ende der 90er-Jahre verliebte er sich in eine norwegische Reederstochter, gab sein Amt auf und beschloss, nach Oslo zu ziehen. Dort lebt er im gutbürgerlichen Stadtteil Vinderen, mit Frau und den gemeinsamen Söhnen, im umgebauten Haus seiner Schwiegereltern. Einen »sehr europäischen Background« nennt er das. In seiner geräumigen Küche hat er die Hemdsärmel aufgekrempelt, eine Schürze umgebunden und bereitet einen Salat zu. Der 59-Jährige, mit rasiertem Schädel und dunkler Hornbrille, wirkt agil. Wie selbstverständlich greift er nach Zutaten und Geschirr, man merkt, hier steht jemand nicht zum ersten Mal zwischen Schüsseln und Gemüse.
Fantasie »In Norwegen hat sich mein Leben jahrelang auf die Familie konzentriert«, erzählt er. »Das war gut so, denn nach zwei Jahrzehnten Kampf im PEN, dem dauernden Einsatz für die Freiheit von Menschen, merkte ich, dass ich privat immer oberflächlicher wurde. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, ein Buch zu lesen und richtig darüber nachzudenken. Und so zog ich mich zurück von diesem hektischen Leben vor den Kameras, dem Leben im Licht der Öffentlichkeit, und wurde zu einem professionellen Windelwechsler.« Der Sohn aus erster Ehe ist mittlerweile Mitte 20, die drei anderen sind noch nicht volljährig. Das enge Zusammenleben mit ihnen hat Gabi Gleichmann ermutigt, das zu tun, wovon er immer geträumt, was er sich aber lange nicht zugetraut hatte: einen Roman zu schreiben.
»Als Vater konnte ich viel von meinen Kindern lernen. Mehr als in der Schule oder an der Universität.« Er lernte, wie wichtig Fantasie und Spiel sind. »Wenn Kinder spielen, sind sie 100-prozentig konzentriert. Ich als Erwachsener hatte das nie geschafft. Meine Kinder eröffneten mir eine neue Perspektive auf mein Tun. Ich begriff, dass meine Grenzen nur im Bewusstsein waren. Und beschloss, mich neu zu erfinden. Ihnen verdanke ich, dass ich auf meine alten Tage noch Schriftsteller geworden bin.« Sechs Monate dauerte es, dann war Das Elixier der Unsterblichkeit geschrieben. Über 600 Seiten, eine jüdische Familiengeschichte vom Mittelalter bis heute. »Nachdem ich mich erst einmal getraut hatte, ging das Schreiben schnell. Aber ich war mit der Idee ja schon 30 Jahre schwanger gegangen.« Das Buch wurde in Norwegen ein Bestseller, gleich in zwölf Sprachen übersetzt und ist soeben in Deutschland herausgekommen.
Prophezeiung Gleichmann erfindet einen Erzähler namens Ari Spinoza. Der ist kinderlos und krebskrank, der letzte Spross seiner Familie. In zwölf Kapiteln berichtet Ari von seinen Vorfahren – und erzählt nichts Geringeres als die Geschichte Europas und der europäischen Judenheit. Ari Spinozas Familiengeschichte umfasst 36 Generationen und beginnt in der spanischen Kleinstadt Espinosa. Dort wird um 1000 u.Z. Baruch Halevi geboren, der später als Leibarzt des portugiesischen Königs Karriere macht und das Elixier der Unsterblichkeit erfindet.
Moses persönlich – oder jemand, der sich als Moses ausgab – hat ihm aufgetragen, das Rezept an die jeweils folgende Generation weiterzureichen. Würde nie jemand davon kosten, gingen alle Nachkommen erhobenen Hauptes durch das Leben, andernfalls aber würden sie ausgelöscht, so lautet die Prophezeiung. Das Rezept des Elixiers löst sich am Ende des Romans in Rauch auf – der Erzähler dreht sich aus dem alten Papier eine Zigarette, denn er ist der Überzeugung: »Was dem Menschen auf der Erde Unsterblichkeit verleihen kann, ist unsere Fähigkeit, uns zu erinnern.«
Schelmenroman Gleichmann ist inspiriert vom magischen Realismus lateinamerikanischer Autoren, vom Schelmenroman und der märchenhaften Erzähl- und Fabulierlust der Geschichten aus 1001 Nacht, von denen er sagt, sie hätten ihm die graue Welt seiner Kindheit im real existierenden Sozialismus bunt gemacht. »Ich komme aus einer sehr liebevollen Familie. Meine Eltern waren glücklich miteinander, und nachdem sie sowohl den Holocaust als auch den Kommunismus hinter sich gebracht hatten, waren sie bemüht, für die Kinder eine Atmosphäre der Wärme und der intellektuellen Herausforderung zu schaffen. Bei uns wurde sehr viel geredet und gelesen.«
Da sich weitere Spuren seiner Familiengeschichte jedoch im Holocaust verloren haben, hat sich Gleichmann mit den Elixieren einen fiktiven Stammbaum erschrieben – damit seine Kinder wissen, woher sie kommen. »Ich möchte, dass sie die DNA verstehen, die ich in mir trage. Die gesammelte Erfahrung vieler Generationen, auch derjenigen, von denen ich nichts weiß, der Vorfahren ohne Gesicht. Und ich wünsche, dass meine Kinder verstehen, was diese kleine jüdische Minderheit für Europa getan hat.«
Moral Gleichmanns Buch erzählt voller Witz von ständiger Bedrohung, der Kraft des Überlebens und dem Beitrag, den die Juden im Laufe der Jahrhunderte für Europa geleistet haben. »Für mich sind das vor allem die Gebote«, betont der Autor in der Küchenschürze, »die Gleichheit vor dem Gesetz, dessen universelle Bedeutung für unser Zusammenleben.«
Gleichmann stammt aus keiner religiösen Familie. In seiner Küche wird nicht koscher gekocht. Jüdisch zu sein hat für ihn vor allem etwas mit Moral zu tun. »Als Junge wurde mir gesagt, dass der Beitrag eines Juden für die Welt darin besteht, immer zwischen guten und schlechten Werten entscheiden zu können. Das ist das Wichtigste, was Juden der Welt gegeben haben. Mein ganzes Leben stand in diesem Zeichen. Ich will dazu beitragen, dass die Welt ein offener Raum und kein Ghetto ist, dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat. Unsere Beziehungen sollten nicht von Nationalität, Geschlecht oder sozialem Status abhängen.«
Gabi Gleichmann ist ein engagierter Homme de Lettres. Einer, der in der Küche wie im Leben steht, der weiß, mit welchen Zutaten man Speisen und Geschichten würzt, der mit Worten etwas bewegt. Literatur und Engagement stehen nach den Jahren als tätiger Familienvater jetzt wieder im Zentrum seines Schaffens: Vor drei Jahren gründete Gabi Gleichmann mit seiner Frau Anette den Verlag »Agora«. Gemeinsam publizieren sie in aufwendiger Ausstattung Autoren, deren Werke zur Weltliteratur zählen – und die bislang nicht ins Norwegische übersetzt wurden. Darunter Jorge Luis Borges, Péter Esterházy und David Grossman. »Ich will der Welt etwas zurückgeben von dem, was ich erhalten habe.« Gabi Gleichmann lächelt. »Von der Wärme, der Liebe und den Büchern, die mich geformt und bereichert haben.«
Gabi Gleichmann: »Das Elixier der Unsterblichkeit«, Roman. Deutsch von Kerstin Hartmann und Wolfgang Butt. Hanser, München 2013, 672 Seiten, 26 €