Flüchtlingstrecks verstopfen in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs die Straßen. Wer sie nicht erleben musste, kennt die dramatischen Bilder aus Büchern und Filmen. Im Mai 1945 ist der Krieg endlich vorbei. Während Millionen auf den Straßen von Paris, London, Moskau und New York jubeln, sind noch immer 20 Millionen Menschen in Europa auf der Flucht. Sie haben ihre Heimat in den Schrecken von Krieg und Holocaust verloren. Oder sie wollen oder müssen sie nun nach den Beschlüssen der Alliierten zur Neuaufteilung der europäischen Landkarte verlassen.
Unter den Vertriebenen sind Millionen Kinder, deren Leben bislang nur mit der Erfahrung von Gewalt, Hunger und Verlust verbunden ist. Sie stehen als Zeitzeugen im Zentrum der Dokumentation »Kontinent der Vertreibung - Europa nach 1945« des österreichischen Autors und Regisseurs Kurt Mayer. Arte strahlt den Film am 3. Januar um 21.45 Uhr aus.
Der stetig präsente Hunger sowie die Furcht vor willkürlichen Übergriffen und Deportationen schweißt auch die Heranwachsenden zusammen, die in den Wäldern Litauens zu überleben versuchen. Sie gehen als sogenannte Wolfskinder in die Geschichte ein. »Wir haben mit dem gelebt, was wir im Wald gefunden haben«, erinnert sich Johanna Rüger, Jahrgang 1934. Die Mutigen, meist Jungen, wären auch in Gehöften eingebrochen und hätten geklaut. »Bald konnten wir nicht mehr unter Menschen. Wir waren so dreckig und verlaust, wir mussten im Wald bleiben.«
In dem Gebiet treffen wie in einem Brennglas zwei historische Entwicklungen aufeinander. Die deutschstämmige Bevölkerung soll, wenn sie nicht längst vor der Roten Armee floh, das Gebiet Richtung Westen verlassen. Familien werden getrennt, andere Kinder haben ihre Angehörigen schon zuvor verloren. Zugleich fürchten die Litauer ebenso wie Esten und Letten, die 1918 eigene Staaten gründeten, die Rache Stalins. Sie werden vom Diktator als Kollaborateure angesehen. Hunderttausende werden nach Sibirien deportiert.
In allen Teilen Europas kommt es auch zu Verbrechen an Menschen, die auf der falschen Seite gelebt oder gekämpft haben. Zu den Betroffenen gehören etwa Bauern aus Südtirol, die Hitlers Versprechen von einem Neuanfang im Osten folgten. Auch die Deutschen in jenen Gebieten, die jetzt zu Polen, Rumänien oder der Tschechoslowakei gehören, müssen nun über Nacht ihre Heimat verlassen.
Derweil fühlen sich Juden, die den Holocaust im Osten und Südosten Europas überlebten, nach Kriegsende nicht sicher. Erneut überschatten Pogrome ihren Alltag und veranlassen sie zur Flucht.
Im Zentrum des Kapitels um das Schicksal von Holocaust-Überlebenden stehen die erschütternden Erinnerungen von Kindern, die die Konzentrationslager nur knapp überlebten. »Meine Mutter starb einen Monat vor der Befreiung. Ich habe wie durch ein Wunder überlebt«, berichtet Isabelle Choko, die Bergen-Belsen überlebte. Die Soldaten hätten sie gefunden, als sie unter den Toten nach Überlebenden suchte. Sie war so abgemagert und geschwächt, dass sie nur noch den Kopf heben konnte.
In allen Ländern errichten die Alliierten und die neuen Regierungen Registrierungszentren für sogenannte Displaced Persons. Die Zentren bringen ein wenig Ordnung in das Chaos. In den überfüllten Lagern warten Alt und Jung bei mangelnder Versorgung auf Entscheidungen.
Der Film macht deutlich, dass der Krieg für Millionen Europäer noch nicht zu Ende war. Leidtragende waren insbesondere die vielen Kinder und Jugendlichen. Die Schrecken des Nachkriegs, von Flucht und Vertreibung, haben sich ebenso wie die Kämpfe selbst tief in ihr Gedächtnis und das des gesamten Kontinents eingebrannt.
Für seinen gut recherchierten und informativen Film durchstöberte Mayer die Archive und fand einige neue Bilddokumente. Er scheut sich nicht, einige Erinnerungen szenisch nachzustellen. Die große Stärke des Films sind die Interviews mit Zeitzeugen, die das Grauen jener Jahre plastisch vor Augen führen. Der englische Historiker Keith Lowe ordnet die Schrecken in das historische Umfeld ein.
»Kontinent der Vertreibung – Europa nach 1945«, Regie und Buch: Karl Mayer. Arte, Di 03.01., 21.45 - 23.15 Uhr.