Sie wärmt das Herz und nervt zugleich, nimmt Anteil, prägt ein Leben lang, gibt Halt – und ist doch absolut distanzlos: die Familie. Im Judentum nimmt sie einen zentralen Platz ein. Man reißt Witze über die Mischpoche und kann doch ohne sie nicht leben. Ihr ist der neue Jüdische Almanach gewidmet.
Das kleine Jahrbuch, das die in Tel Aviv lebende frühere ZEIT-Korrespondentin Gisela Dachs herausgibt, beschäftigt sich jedes Jahr mit einem auf den ersten Blick ganz alltäglichen Thema: Waren es in den vergangenen Jahren »Musik«, »Proteste«, »Liebe« oder »Sport«, steht diesmal die Familie im Fokus. 15 Autoren aus Deutschland, Israel und Nordamerika zeigen auf knapp 180 Seiten, wie facettenreich und unerschöpflich das Thema ist. Bei ihren Texten handelt es sich um wissenschaftliche Aufsätze, journalistische Beiträge, Erzählungen oder Romanauszüge.
Väter Der Reigen, den die Herausgeberin sehr gelungen zusammengestellt hat, beginnt mit dem amerikanischen Kulturanthropologen Jonathan Boyarin. Er liefert einen historischen Rückblick und nähert sich der Frage nach der Zukunft jüdischer Familienformen. Welche Rolle heute die Eltern als Übermittler von Tradition, Wissen und Werten spielen, fragt der Basler Religionshistoriker Alfred Bodenheimer in seinem Beitrag »Enterbte Väter?« – und stellt fest: »Ein Vorteil der postpatriarchalen Epoche kann sein, dass Väter, die ihre familiäre Rolle stärker und weniger hierarchisch wahrnehmen, tatsächlich primär wieder zu Lernenden der Tradition werden.«
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit dem Thema Familie vor dem Hintergrund der Schoa. Zu den bewegendsten zählt der Aufsatz der amerikanischen Soziologin Diane L. Wolf. Sie geht der Frage nach, wie Familie nach der Schoa »neuformuliert« wurde. Wolf interviewte 70 Frauen und Männer, die in Holland im Versteck bei fremden Familien überlebten. In präziser wissenschaftlicher Sprache, doch sehr berührend, beschreibt sie, was die Kinder damals empfanden: »Die Trennung von den Eltern in so jungen Jahren war für die meisten fast unerträglich.« Manche hätten unentwegt geweint, andere wiederum wurden von ihren Pflegeeltern ins Herz geschlossen und zählen diese Zeit erstaunlicherweise »zu den schönsten Jahren in der ganzen Kindheit«. Dramatisch wurde es, wenn die Kinder nach der Schoa nicht wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren wollten.
Von Trennungen ganz anderer Art berichtet die israelische Autorin Yael Neeman. Sie erzählt von einer Kindheit im Kibbuz. »Wir kamen täglich gegen Abend ins elterliche Haus, eine Stunde und 50 Minuten lang.« Neeman, die selbst in einem Kibbuz aufwuchs, fragt sich, warum man die Kinder von den Eltern trennte. »Die Absicht war, die Kinder aus der Bürgerlichkeit der Familie zu lösen und sie vor ihr zu beschützen.« Doch erreicht wurde in vielen Fällen wohl das Gegenteil. »Die Sehnsucht mancher Kibbuzkinder nach einer Familie, die sie nie gehabt haben, ist wie die Sehnsucht der Diasporajuden nach Jerusalem.«
Leihmutter Von der Sehnsucht eines schwulen Paars nach Kindern erzählt der Journalist Assaf Uni. Die beiden Männer kauften in den USA zehn Eizellen, die von Spenderinnen aus Osteuropa stammten. Dann reisten sie nach Amerika, spendeten Samen und trafen die Leihmutter. Für viel Geld setzten die Ärzte drei Eizellen in die Gebärmutter der Frau ein. Zwei davon nisteten sich ein – von jedem Mann war eine befruchtet worden.
Neun Monate später reisten die beiden Männer abermals nach Amerika, um bei der Geburt der Zwillinge dabei zu sein. »Heute sind die vier eine glückliche Familie in Tel Aviv«, schreibt Uni. Nun, man darf gespannt sein, was diese beiden Kinder wohl eines Tages zum Thema »Familie« beizutragen haben.
Gisela Dachs (Hrsg.): »Familie. Jüdischer Almanach«. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2017, 178 S., 18 €