Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.» Zum Glück konnten die Gründungsväter des Zionismus – Frauen gab es in ihren Reihen kaum – dieses Bonmot aus dem Munde des Altkanzlers Helmut Schmidt nicht kennen. Denn der Plan von Juden, einen Staat für Juden zu gründen, klang sowieso schon reichlich verrückt und versprach angesichts der Realitäten des ausgehenden 19. Jahrhunderts wenig Aussichten auf Erfolg.
Auch war das Projekt nur ein Ansatz unter mehreren, dem Antisemitismus Paroli zu bieten und Antworten auf das zu liefern, was damals allgemein als die «Judenfrage» bezeichnet wurde. Denn wie der Historiker Michael Brenner zeigt, gab es konkurrierende Konzepte wie den Sozialismus der Bundisten, den Diasporanationalismus mit seiner Forderung nach einer Autonomie für die in Osteuropa lebenden Juden und – last but not least – die Idee der vollständigen Assimilation, was in Konsequenz gedacht ein Ende des Judentums in Europa bedeutet hätte. Aber allen war ein Ziel gemeinsam: die Normalität jüdischen Lebens.
Vordenker In seinem Buch nun richtet Brenner den Blick aber vor allem auf den Zionismus als Idee und skizziert ihre unterschiedlichen Ausprägungen zuerst in der Theorie und nach 1948 in der Praxis. Seine These: «Obwohl Israels Vordenker und später Israels Politiker immer wieder den Weg in die Normalität einzuschlagen versuchten und dem ›besonderen‹ Schicksal der jüdischen Geschichte entfliehen wollten, konnten sie sich nicht von dem Bann lösen, der die Geschichte der Juden über Jahrtausende begleitet hat.»
Schließlich konnte die Einzigartigkeit der jüdischen Existenz als oftmals diskriminierte supranationale Minderheit über Jahrhunderte hinweg nicht folgenlos bleiben – sowohl was die Selbst- als auch was die Außenwahrnehmung eines jüdischen Gemeinwesens betraf. So sollte dieses laut Theodor Herzl nicht ganz unbescheiden ein «Experiment zum Wohle der ganzen Menschheit» sein. Soziale Absicherung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber vor allem der Umgang mit seinen nichtjüdischen Bewohnern mussten seiner Vision zufolge Vorbildcharakter haben.
Staatsgründer David Ben Gurion knüpfte daran an. «Ihm war dabei bewusst, dass es eine konstante Spannung zwischen dem Anspruch gab, einen Staat ›wie alle anderen Staaten‹ zu etablieren, und der Verpflichtung, ein Musterstaat zu sein», schreibt Brenner. Der Historiker beleuchtet die daraus hervorgegangenen Diskussionen um Autonomiepläne, die Einstaaten- und Zweistaatenlösung. Dabei fördert er manch Erstaunliches zutage. So plädierte beispielsweise Zeev Jabotinsky – immerhin eine der zentralen Figuren des Revisionismus, aus dem viele Jahre später der Likud hervorgehen sollte – in seinen Schriften für gleiche individuelle und kollektive Rechte für Juden und Araber.
Missverständnisse Gleichfalls verweist Brenner in seinem klar geschriebenen Buch auf einen weiteren, in der Gegenwart immer wichtiger werdenden Aspekt, der oft eine Geschichte voller Missverständnisse und falschen Erwartungen war: Wie soll es um das Verhältnis zwischen einem jüdischen Staat und der Diaspora bestellt sein? Und welche Folgen hat es für Israel, wenn nunmehr auch eine wachsende israelische Diaspora existiert? Ist das noch normal?
Aufgrund seiner faktengesättigten Analysen und pointiert verfassten Thesen auf dem bis dato wenig beleuchteten historischen Terrain der ideengeschichtlichen Forschung hat Brenners Buch gute Karten, ein Standardwerk zu werden.
Michael Brenner: «Israel – Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates». C.H. Beck, München 2016, 288 S., 24,95 €